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Um die Ecke gebracht

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Meine Karriere als Raucher war kurz und glanzlos. Sie dauerte knapp vier Jahre, von 15 bis 19. Wobei ich ohnehin nur im streng physikalischen Sinne rauchte; ideologisch gesehen, war ich immer ein Nichtraucher. Denn wer es ernst meint mit dem Tabak, raucht auch vor dem Frühstück, nach dem Sport und bei Mandelentzündung. Genau genommen rauchte ich überhaupt vor allem aus einem Grund: wegen des Raucherecks in der Schule.  

Mit der Kippenschachtel am Automaten löste man damals nämlich gleichzeitig eine Eintrittskarte für den besten Ort des Schulgeländes – diesen mit Spuckeflecken und platt getretenen Kaugummis übersäten Ort. Dort stand ich die zwei Sommer und zwei Winter von meinem achtzehnten Geburtstag (Volljährigkeit war Voraussetzung für das Rauchen an der Schule) bis zum Abitur. Jede kleine Pause, jede große Pause und pünktlich nach dem 13-Uhr-Gong stellte ich mich in den lockeren Halbkreis aus Kollegiaten um den hüfthohen Ascher und zog an den roten Gauloises, die wir alle nur deshalb rauchten, weil irgendwann mal jemand damit angefangen hatte.  

Immer im September mussten wir das Rauchereck suchen. Es zog jährlich um. So wie man am ersten Schultag nach den Sommerferien sein neues Klassenzimmer finden muss, stand auch der Aschenbecher jedes Mal woanders um die Schule herum. Zuerst neben den Tischtennisplatten vor dem Musiksaal. Danach am Tor zum Schulhof. Schließlich, als ich mit dem Übertritt in die Kollegstufe endlich selbst befugt war, das gelobte Eck zu betreten, fand ich es, geschrumpft und im Schatten sehr hoher Fichten, hinter dem Gebäude neben dem Parkplatz. Stück für Stück war der Aschenbecher an die Peripherie gerückt worden, immer weiter weg aus dem Sichtfeld von Lehrern, Schülern und zornigen Elternbeiräten.  

Diese Verdrängung war eine Art Vorbote für eine Entwicklung, die ich damals noch nicht sah, die aber kurz nach meinem Abitur in die offizielle Abschaffung aller Raucherecken in Bayern mündete. Seither gilt ein generelles Rauchverbot für Schüler und Lehrer. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Sommer dieses Jahres ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verdrängungsprozess Früchte trägt: Sie besagt, dass die Zahl der jugendlichen Raucher in den vergangenen zehn Jahren um mehr als die Hälfte gesunken ist. 2001 rauchten noch knapp 28 Prozent der Zwölf- bis Siebzehnjährigen, 2012 nur noch 12 Prozent.  

Fragt man die Herausgeber der Studie nach den Gründen, sprechen sie von Nichtraucherkampagnen, Informationsständen und Mitmach-Parcours an den Schulen. Der Rückgang der Raucher sei aber vor allem Zeichen eines größeren gesellschaftlichen Wandels, der bei den Jugendlichen zuerst sichtbar werde: Die strengen Regeln für Tabakwerbung, die steigenden Preise, die leidigen Diskussionen um Nichtraucherkneipen lassen weniger Junge damit anfangen. Rauchen bedeutet heute zuallererst: Krankheit. Im Rauchereck war es für unsere von der Zigarettenwerbung weich geklopften Hirne einfach nur Freiheit.   Dabei hatte der Wandel schon damals eingesetzt. Wir merkten das daran, dass die Lehrer immer zuverlässiger dafür sorgten, dass sich im Rauchereck keine minderjährigen Schüler aufhielten, die sich an unserer Sucht ein Beispiel nehmen könnten. In unserem Eck wurden wir also gleichzeitig abgeschirmt und beschützt. Wie eine seltene, aber lästige Spezies, die sich hinter dem Haus eingenistet hatte und irgendwann, nach dem Abitur, schon verschwinden würde.  

Diese Abschirmung war für uns psychologisch enorm wichtig. Der Abstand zu den Kindern gab uns dienstältesten Schülern das erhabene Gefühl, doch irgendwie erwachsen zu sein. Das Schlimme an den letzten Schuljahren ist ja – bei aller Zielgeraden-Euphorie –, dass man zwar volljährig ist, aber trotz Führerschein, Auto oder Nasenpiercing noch immer fremdbestimmt durch so profane Dinge wie Pausengongs und Stegreifaufgaben aus der Mathematik. Im Rauchereck waren wir zwar auch noch Schüler. Aber immerhin die einzigen mit einer Lizenz zum Qualmen. Weshalb viele auch dann noch täglich im Rauchereck standen, als sie sich das Rauchen wieder abgewöhnt hatten. Natürlich hätten sie jetzt ihre Pausen auch mit den Nichtrauchern verbringen können, die auf der Vorderseite des Gebäudes in ihre Bierschinkenbrote bissen und Vokabelkärtchen blätterten. Aber will man das, nachdem man schon die nikotinschwangere Freiheit geschnuppert hat? Das Rauchereck war immer noch der beste Ort der Schule, unabhängig davon, ob man seinen funktionalen Zweck nun nutzte oder nicht. Schließlich geht man ja auch in einen Club, wenn man nicht tanzt.  

Wenn sich der Trend so fortsetzt wie bisher, dürfte in zwanzig Jahren kaum noch ein Jugendlicher rauchen. Aber es gibt längst neue Baustellen: Die Sucht der Zukunft, warnt man bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sei die Internet- und Computerspielsucht. Um ihr entgegenzuwirken, entwickelt man gerade Kampagnen und Aufklärungsseminare für Schüler.  

Wenn in ein paar Jahrzehnten das Rauchereck also endgültig in Vergessenheit geraten ist, werden sich die Schulen mit den Süchten der Zukunft arrangiert haben. Vielleicht wird es dann Internet- und Computerspielecken geben, in die sich die Oberstufenschüler zurückziehen dürfen. Womöglich werden diese Rückzugsorte zunächst neben den Tischtennisplatten beim Musiksaal installiert. Aber das wird nur der Anfang sein.

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