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Raus aus der Warteschlange.
Wenn Sarah auf eines keine Lust hat, dann ist es: abwarten und Tee trinken. Zum einen besitzt sie überhaupt keinen Wasserkocher und muss das Getränk für ihre beste Freundin Gabriella, die zu Besuch gekommen ist, in einem kleinen Blechtopf erhitzen. Zum anderen möchte sie endlich wieder raus vor die Türe ihrer Sozialwohnung im Münchner Hasenbergl. Sie möchte arbeiten. Auf der Postkarte, die Sarah an die Wand ihrer schlichten Küchenzeile gepinnt hat, steht: „Ausruhen ist eine Kunst, die man auch erst lernen muss.“ Ginge es nach Sarah, hätten andere Lernziele Vorrang. Sie hat drei Ausbildungen angefangen. Die letzte musste sie wegen eines dreifachen Bandscheibenvorfalls vorzeitig beenden. Sie hat jetzt wieder viel Zeit zum Ausruhen, und sie hasst es.
Sarah, 24, und Gabriella, 23, sind zu jung, um im Ruhestand zu leben. Seit ihrem 16. Lebensjahr gehören beide zu den mehr als 160.000 Jugendlichen in Deutschland, die von Hartz IV leben. Wer beim Jobcenter im U25-Programm geführt wird, kommt häufig aus einer Familie, in der die Eltern selbst im sogenannten Leistungsbezug stehen. Viele Jugendliche haben keine ausreichende Qualifikation. Sie haben die Schule abgebrochen und sind dann arbeitslos geworden. Aber Sarah und Gabriella sagen, dass sie nicht arbeitslos, sondern arbeitssuchend seien. Der Unterschied ist ihnen wichtig. Sie wollen raus aus der Statistik. „Wir haben es satt, eine Nummer in der Jobcenter-Warteschlange zu sein,“ sagt Sarah. Aber so einfach ist das nicht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Mach es besser als ich", sagte die Mutter zu Sarah. Sie versucht es. Immer wieder.
Es fängt damit an, dass jugendliche Hartz-IV-Empfänger keinen eigenen Haushalt gründen dürfen. Sie müssen mit ihren Eltern in einer „Bedarfsgemeinschaft“ leben, bis sie 25 Jahre alt sind. Sarahs Wohnung wird nur deswegen vom Staat finanziert, weil sie mit 16 schwanger wurde und ihren autistischen Sohn allein erzieht. Wer dagegen wie Gabriella für eine Ausbildung von zu Hause ausziehen möchte, kann „Berufsausbildungsbeihilfe“ beantragen, muss dafür aber beweisen, dass es am ursprünglichen Wohnort keine freie Ausbildungsstelle gab. In München ist das so gut wie unmöglich. Hilfe von der Familie erhalten Sarah und Gabriella nicht. Die Eltern sind aus Serbien und Kroatien nach Deutschland gekommen. Der eine Vater verließ die Familie, der andere kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Bleiben die Mütter. „Sie kommen aus einer anderen Generation“, sagt Gabriella entschuldigend. Die Mütter sind Frauen, die weinen, statt zu helfen, wenn ihre Töchter Kummer haben. Mütter, deren einziger Ratschlag lautet: „Mach es besser als ich.“
Gabriella wollte dem Ernst des Lebens so lange wie möglich davonlaufen. Sie schmiss die Schule, tagsüber jobbte sie, abends feierte sie Partys. Irgendwann konnte sie ihre Handyrechnungen nicht mehr bezahlen, sie fuhr oft schwarz und wurde immer häufiger erwischt. Ihr Schuldenberg wuchs bedrohlich. Sarah hatte andere Sorgen. Die Ausbildung zur Alten-pflegerin musste sie einen Monat vor der Abschlussprüfung abbrechen, weil sie sich keine Tagesmutter für den kleinen Jerome leisten konnte. Jeromes Vater konnte mit der Behinderung des Jungen nicht umgehen und ließ Sarah mit dem Baby allein. Er zahlt bis heute keinen Unterhalt. Sarahs zweite Ausbildung zur Bürokauffrau endete mit einer Thrombose im rechten Bein: Sarah musste plötzlich Tätigkeiten im Sitzen vermeiden. Und jetzt der Bandscheibenvorfall.
In Hartz-IV-Karrieren wie denen von Sarah und Gabriella geht es nicht nur um einen fehlenden Arbeitsplatz. Wer ohne Unterstützung der Eltern, ohne Ersparnisse und ohne eigene Wohnung so etwas wie eine Zukunftsvision entwickeln will, den werfen selbst kleine Rückschläge schnell aus der Bahn. Verpatzte Chancen führen zu Mutlosigkeit und damit in einen Teufelskreis, dem nur mit großem Durchhaltevermögen zu entkommen ist. Oder mit der Hilfestellung eines Vereins wie „Future Network – Jugend und Beruf“.
Der Verein betreibt im Sozialbürgerhaus Milbertshofen – Am Hart ein Caféprojekt, zu dem die U25-Arbeitsvermittler immer dann ihre „Kunden“ schicken, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Im „Café Future“ kümmern sich zwei Sozialarbeiter um zehn arbeitslose Jugendliche. Sarah und Gabriella haben sich hinter dem Tresen des Cafés kennengelernt. Ein halbes Jahr hatten sie so die Möglichkeit, Arbeitserfahrung in der Gastronomie zu sammeln. Ein Gehalt gab es nicht, dafür aber Trinkgeld. Die Betreuer wollen das Selbstbewusstsein der jungen Erwachsenen mit kleinen Erfolgserlebnissen stärken. Sie wollen Lust darauf machen, das Leben wieder in die Hand zu nehmen. Gabriella sagt: „Die waren die Ersten, die etwas in mir gesehen haben.“ Sarah sagt: „Ich wusste schon immer, dass ich will, aber ich wusste nicht, wie.“ Bewerbungen schreiben zum Beispiel. Das macht sie nun im Café. Zu Hause hat Sarah keinen Drucker.
Wenn man Gabriella fragt, wo sie sich in zehn Jahren sieht, antwortet ihre Freundin Sarah ganz schnell für sie: „Bei Siemens oder BMW natürlich.“ Gabriella sagt: „Du spinnst wohl. Wenn, dann bei Mercedes.“ Gabriella kennt sich aus mit Autos. Vor Kurzem hat sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau in einer Kfz-Werkstatt begonnen, ihre Schulden liegen so lange auf Eis. Sie lebt jetzt von 500 Euro Ausbildungsvergütung im Monat. Davon geht noch die Miete für ihr kleines, aber eigenes Zimmer ab. Diese Freiheit war ihr wichtig. Auch wenn sie bedeutet, dass Gabriella am Ende mit 80 Euro im Monat zurechtkommen muss. An den Wochenenden wird sie deswegen kellnern. Drei Ausbildungsjahre muss sie so durchhalten. „Wenn ich diese Chance jetzt sausen lasse, habe ich alle enttäuscht. Vor allem mich selber.“ Sarah bleiben mit Kindergeld und Hartz IV 480 Euro im Monat zum Leben. Die Miete und den Strom zahlt der Staat. Würde sie arbeiten gehen und am Ende des Monats das gleiche Geld auf dem Konto haben wollen, bräuchte sie einen Job, der ihr mindestens 1500 Euro brutto im Monat bringt. Sie könnte es sich leicht machen und sagen: Das schaffe ich eh nicht. Aber Sarah will es sich nicht leicht machen. Sobald sie arbeiten kann, möchte sie eine Ausbildung zur „Heilerziehungspflegehelferin“ beginnen. Die dauert nur ein Jahr, und in den Schulferien könnte ihr Sohn vielleicht an einem Sommerferienprogramm der Stadt teilnehmen. „Es ist schon schwierig“, sagt sie. Und dann fügt sie an: „Aber es war schon schwieriger.“
* Die Namen der Mädchen wurden von der Redaktion geändert.
Dieser Text ist im Magazin jetzt - Schule&Job der "Süddeutschen Zeitung" erschienen. Eine Übersicht der Texte aus dem Heft findest du im Label Schule_und_Job.
Text: anna-kistner - Foto: Stefanie Füssenich