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  Wir haben vier Experten über Klassenfahrten diskutieren lassen. Zu sehen sind trotzdem nur drei: Rotraut Drexler, Stefanie Zimmer und Nick scharif (v.l.). Der Lehrer bekam nach dem Interview keine Genehmigung seines Schulleiters für das Gespräch. Deshalb möchte er anonym bleiben.

jetzt.de: Was ist Ihnen von Ihren eigenen Klassenfahrten früher in Erinnerung geblieben?
Rotraut Drexler, Köchin im Schullandheim Bairawies: So viele Klassenfahrten gabs früher nicht. Meine einzige Klassenfahrt auf der Realschule ging nach Kaltern, und wir haben einen Tag lang einen Ausflug nach Venedig gemacht. Venedig war so heiß! Durst haben wir gehabt! Der Getränkestand dort war teuer, und wir hatten wenig Geld. Aber es gab einen Melonenstand. Den haben wir gestürmt, Melonen konnten wir uns nämlich leisten. Aber das war eine andere Zeit! Wer ist denn früher schon weggefahren?
Fridolin Talmann, Realschullehrer aus Augsburg *: Deswegen gab es ja diese Lehr- und Studienfahrten. Weil die Leute und die Kinder früher nie weggekommen sind. Es gibt ja auch heute streng genommen keine Klassenfahrten. Es gibt sogenannte Lehr- und Studienfahrten. Das ist genau das Problem heute: Diese Fahrten sind nicht mehr so sinnvoll, weil die Kinder mit den Eltern zum Teil an ganz andere Ziele reisen. Damals war der Gardasee schon toll, und wenn es nach Frankreich ging, war das eine Sensation.
Nick Scharif, früher Busfahrer, heute Vertriebsleiter des Reiseunternehmens Alpetour: Ich habe sehr viele Klassenfahrten gemacht. Angefangen hats schon in der fünften Klasse im Gymnasium mit einer Kennenlernfahrt.
Drexler: Was für ein Jahrgang sind Sie?
Scharif: 1976.
Drexler: Ja, das ist schon ganz was anderes.
Scharif: Später sind wir jedenfalls noch im Skilager gewesen, es gab eine Fahrt zu den Besinnungstagen, dann in der Kollegstufe in jedem Leistungskurs eine Kursfahrt. Wobei die Kollegstufenfahrt die nachhaltigste war. Wir hatten einen Lateinlehrer, der mit 70 Jahren noch im Dienst war. Der war Lateinlehrer aus Leidenschaft. Der ist mit uns nach Sorrent gefahren. Das war gewaltig, was der alles geboten hat.

Für Sie war also tatsächlich das Programm wichtig? Die bleibenden Momente bei uns sind etwas anderer Natur. Da geht es eher um Klamottentauschen oder das Nachbarzimmer voller Italienerinnen.
Scharif: Klar, so was ist auch nicht ausgeblieben. Nur das andere hat mich im Nachhinein mehr beeindruckt.
Talmann: Das Halligalli wurde diskret abgedeckt. Aber solche Lehrer wie Ihrer haben mich auch geprägt. Die konnten auch die Dinge super rüberbringen und haben Begeisterung geweckt. Aber das Interesse ist heute nicht mehr so da.
Drexler: Das würde ich nicht sagen. Es kommt auf die Orte an. Es gibt Orte, die eine Bereicherung sind. Mein Mann ist Oberstufenkoordinator und fährt auf Klassenfahrten, und da fahre ich seit 34 Jahren mit. Letztes Jahr waren wir in Bilbao. Wir waren in Tallinn und in Riga. Die Schüler waren jedes Mal begeistert, weil sie da sonst nicht hingefahren wären.
Stefanie Zimmer, Leiterin der Jugendherberge Possenhofen: Ich habe keine Studienfahrten mitgemacht. Ich kann mich jedoch an einen Schullandheim-Aufenthalt in der sechsten Klasse erinnern: Jugendherberge Nördlingen, totales Klischee: Das Essen war furchtbar, zu trinken nur Hagebuttentee, es gab einen Riesenschlafsaal, und die Hausmutter war ein Drachen. Wir mussten den Schlafsaal kehren, und wenn wir das morgens nicht bis halb neun getan hatten, dann hats gezischt.

Gibts den Hagebuttentee heute eigentlich immer noch überall?
Talmann: Natürlich!
Zimmer: Man kann ihn sich nehmen. Wir haben heißes Wasser und verschiedene Teesorten im Beutel. Aber es steht nicht mehr wie früher auf jedem Tisch eine Kanne mit dubiosem, süßem Hagebuttentee.

Warum eigentlich ausgerechnet Hagebuttentee?
Scharif: Wahrscheinlich war der am günstigsten.
Drexler: Jetzt gehört der Hagebuttentee zu den teuersten Teesorten. Der günstigste war schon immer der Pfefferminztee. Das ist auch heute noch so.
Scharif: Die Verpflegung hat sich ja gewaltig verändert. Selbst die einfachen Jugendanlagen in Italien bieten heute vier verschiedene Teesorten an. Zu meiner Zeit gab es beim Klassenausflug Nutella, einen Bierschinken, den eh keiner gegessen hat, und noch ein bisschen Käse. Heute gibt es Buffets wie in einem Viersternehotel.
Zimmer: Wir wollen halt, dass die Kinder was essen und satt werden. Mit einer billigen Sorte Wurst funktioniert das nicht.

* Name von der Redaktion geändert


Was ist das beliebteste Essen auf Klassenfahrten?
Talmann: Schnitzel mit Pommes, oder? Zimmer: Wir haben keine Fritteuse, bei uns sind es deshalb Spaghetti Bolognese. Nudelgerichte generell.
Scharif: Ja, Pasta oder Pizza sind auch meiner Erfahrung nach sehr beliebt.
Drexler: Bei uns sind es Pfannkuchen oder Kaiserschmarrn weil die Mamas ja keine Mehlspeisen mehr zubereiten.

Für Schüler ist die Zimmerverteilung der erste wichtige Moment auf der Klassenfahrt. Für Sie auch?
Zimmer: Die Lehrer fragen in aller Regel vorher nach der Zimmerverteilung, um das zu Hause auszukaspern. Denn das ist oftmals ein harter Kampf. Aber leider machen es nicht alle so. Dann gibt es böse Zickenkriege.
Drexler: Tragödien!
Zimmer: Solche Außenseiterszenen spielen sich bei uns in der Halle ab, wenn der Lehrer sagt: Nun verteilt euch mal auf die Zimmer. Da werden die Schlüssel gegriffen, und alle sind ganz schnell weg. Häufig bleiben dann ein paar Mädchen übrig. Die stehen da ganz schüchtern, Kopf gesenkt, und wenn man sie fragt, was mit ihnen ist, sagen sie: Uns will ja keiner. Das ist wirklich schlimm. Oder die Kinder streiten sich in der Halle laut. Da werden die einzelnen Mädels dann lauthals ausgegrenzt das sind für mich die schlimmsten Situationen. Oft schau ich dann, ob ich noch ein Zimmer habe, aber leider ist das selten der Fall.
Drexler: Wir stellen manchmal ein Zusatzbett ins Zimmer, damit der übrig Gebliebene doch noch bei den anderen sein kann.
Talmann: Ich kann mich auch an Szenen erinnern, in denen ich unter riskantem Einsatz der körperlichen Unversehrtheit Streitereien schlichten musste. Man muss so was einfach vorher regeln. Bei mir machen die Schüler das vorher selber von Lostrommeln halte ich nichts.

Sollen denn Klassenfahrten nicht auch zusammenschweißen?
Talmann: Ja. Ich finde Kennenlernfahrten mit der fünften Klasse sehr sinnvoll. Dass die Schüler Gruppenverhalten lernen. Wenn man das gleich am Anfang macht, hat man später keine Probleme mehr.
Zimmer: Viele Klassen buchen ein Programm, um den Klassenzusammenhalt zu trainieren. Erlebnispädagogisch, naturpädagogisch und so weiter.

Klingt wie ein Training für Manager ...
Zimmer: Ja, so ähnlich. Aber es hat eine Wirkung, wenn Erlebnispädagogen die Außenseiterprobleme ansprechen und sie mit den Schülern bearbeiten.
Talmann: Bei solchen Fahrten fahre ich besonders gern mit. Die großen Auslandsfahrten mache ich nicht so gern. Weil ich keine Lust mehr habe, morgens um drei Uhr zwei Polizisten mit schussbereiter Maschinenpistole in einer fremden Sprache zu erklären, dass meine Schüler dem Mädchen nicht an die Wäsche gegangen sind.

Gibt es Ziele, die Sie nicht so gern mögen?
Talmann: Berlin und Prag machen jedes Mal Ärger.
Drexler: In Berlin kommt es drauf an, in welcher Ecke du wohnst.
Scharif: Die ländlichen Ziele sind meistens einfacher. Da sind die Herbergen ein bisschen abgeschiedener, und wenn die Schüler nicht so schlau sind, vorher dran zu denken, können sie vor Ort gar keinen Alkohol kaufen. Die sind ja auch faul und fragen dann: Du, Busfahrer, kannst du uns noch schnell zum Supermarkt fahren? Und das kann der Lehrer dann steuern. Die gefährlichste Stadt ist, glaube ich, Amsterdam.
Talmann: Dort habe ich gar keine schlechten Erfahrungen gemacht. Die Jungs sind in die Strip-Bars im Rotlichtviertel und in die Coffeeshops überhaupt nicht reingekommen. Da musste ich mich gar nicht anstrengen, das haben die Holländer ganz allein geregelt.
Drexler: Ich fand Malta am schwierigsten. In jedem zweiten Haus ist eine Kneipe, die Insel ist vollkommen überschwemmt von Jugendlichen, und der Alkohol ist erstaunlich billig. Das ist eine ganz gefährliche Kombination. Das war das einzige Mal, dass ich jemanden nach Hause schicken musste.

Es gibt ja auf jeder Fahrt ein Partyzimmer. Weiß man vorher, welches Zimmer das sein wird?
Talmann: Man ahnt es. Bei uns ist Bettruhe um 22 Uhr und dann bin ich mindestens bis um zwei Uhr oder drei Uhr auf dem Gang und patrouilliere.
 
Und dann müssen Sie die Jungs aus den Mädchenzimmern einsammeln?
Talmann: Umgekehrt. Die Mädchen wollen eher ins Jungszimmer als andersrum.
Zimmer: Ja, das ist in allen Altersgruppen so. Vor allem, wenn es erst so langsam losgeht mit dem Interesse am anderen Geschlecht. Da schotten sich die Jungs noch ab, die Mädchen sind schon weiter und sagen: Oh, interessant, Jungszimmer!

In höheren Klassen gibt es manchmal Paare. Wie gehen Sie damit um?
Drexler: Die sind da vernünftig und schlafen schön in ihrem eigenen Bett.
Talmann: Man weiß natürlich nicht immer genau, was da sonst so passiert. Aber die Pärchensachen regeln die nicht in einem Gemeinschaftszimmer.

Und wenn die Jungs und Mädchen einander nachts doch noch besuchen ist das Standardversteck da immer noch der Kleiderschrank?
Drexler: Bei uns gibt es gar keine Kleiderschränke, sondern nur Regale. Kleiderschränke sorgen nur für Müll.
Talmann: Zuerst schaue ich unters Bett! Da hab ich auch schon mal jemanden gefunden. Der Balkon ist ein beliebtes Versteck. Oder das Dach. Wenn das Zimmer im ersten Stock ist und vielleicht noch eine Dachrinne vorhanden da geht oft was. So was sehe ich allerdings eher von außen. Die Schüler wissen auch schon, dass ich draußen mit der großen Taschenlampe entlanggehe und aufs Dach leuchte. Allerdings wird das mit dem Verstecken im Laufe der Woche besser. Der Montag ist immer der schlimmste Tag ...
Drexler: Nein! Der Dienstag! Dienstags ist es immer am dollsten.
Talmann: Ja, das stimmt eigentlich. Montag ist für die Schüler noch alles neu, sie kennen sich nicht so aus. Am Dienstag denken sie bereits, sie seien die Herren des Hauses. Mittwoch werden sie dann schon müde, und Donnerstag machen wir meistens eh einen bunten Abend. Freitag auf dem Rückweg schlafen dann alle.
Zimmer: Von den Nächten finde ich immer Montag und Donnerstag am schlimmsten.
Scharif: Vermutlich weil die Schüler am Donnerstag sicher wissen, dass sie nicht mehr heimgeschickt werden können.
Talmann: Man muss halt durchgehend Programm machen, dann werden die Schüler schon müde.
Scharif: Wenn ein Lehrer sich Mühe gibt und auf die Schüler eingeht, dann wird die ganze Klassenfahrt ein viel größerer Erfolg. Leider resignieren viele Lehrer, für die ist eine Klassenfahrt eine Qual. Das merkt man schon im Bus. Da sitzen in den ersten zwei Reihen die Lehrer, dann bleiben vier Reihen leer, und dann kommen erst die Schüler. Wenn ich anbiete, deren Musik anzumachen, wiegeln die Lehrer sofort ab. Oder das ist der andere Fall sie bitten extra um besonders viele Filme, damit die Schüler ruhig sind. Oder wir machen eine Dolomitenrundfahrt, und ich fahre die vielen Pässe, und die Schüler haben die Vorhänge zugezogen und schauen Videos. Dann sage ich immer zu den Lehrern: Wir hätten uns auch vom Hotelier einen Pkw leihen können, und dann hätte ich Sie allein durch die Gegend gefahren.

Für Schüler ist eine Klassenfahrt eben auch eine Möglichkeit, Grenzen auszutesten.
Drexler: Na ja, aber für Lehrer ist es doch auch ein Erlebnis. Viele Lehrer lernen ihre Schüler auf einer Klassenfahrt ganz neu kennen. Der Maxi, der in der Schule sonst zum Beispiel niemals rechnen konnte, erweist sich dann auf einmal als toller Handwerker. Diese Seite würden die Lehrer in der Schule nie zu Gesicht bekommen. Im Gegenzug erleben auch die Schüler die Lehrer mal privat.

Also hat man dann als Lehrer nach so einer Fahrt ein anderes Verhältnis zu den Schülern?
Talmann: Ja, aber das kann positiv und negativ sein. Die größten Rabauken erweisen sich auf der Klassenfahrt dann als ganz wunderbar, und die Musterknaben knallen durch.
Drexler: Manchmal werden die Schüler sogar richtig anhänglich auf den Fahrten.
Talmann: Die Umstellung zurück zum Schulalltag ist oft nicht leicht. Auf der Fahrt ist man eine verschworene Gemeinschaft, und danach ist der gute Onkel wieder der strenge Lehrer. Das fällt auch den Schülern schwer.

Was gehört zur Grundausstattung auf einer Klassenfahrt?
Drexler: Gute Nerven.
Talmann: Bundeswehrerfahrung. Man muss innerhalb von einer Stunde Schlaf das nachholen können, wofür Normalsterbliche fünf Stunden brauchen.
Drexler: Eine Reiseapotheke.
Talmann: Und Programmalternativen. Da muss ich jetzt mal eine Lanze für die Busfahrer brechen: Ihr wart für mich immer der dritte Mann. Ihr habt immer gute Vorschläge eingebracht, das muss ich hoch loben!
Scharif: Nett, dass Sie das sagen. Aber meistens werden wir eher wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Wie der Depp vom Dienst. Das liegt allerdings auch oft am Auftreten der Busfahrer gegenüber den Schülern. In unserer Firma habe ich deshalb eine Weiterbildungsakademie für Busfahrer gegründet. Gemeinsam mit Profis üben wir unser Auftreten und beseitigen ungute Muster, die sich im Umgang miteinander allmählich eingeschlichen haben.

Was für Muster sind das?
Scharif: Beispielsweise ist es ja normal, dass der Busfahrer die Koffer einlädt, dem Lehrer die Hand schüttelt und dann losfährt. Erst außerhalb der Stadt nimmt er das Mikro in die Hand und sagt: Servus, ich bin der Erwin, das und das dürft ihr und das und das nicht. Das ist schlecht, denn da ist der Erwin bereits für alle nur noch der Busfahrer. Bei uns stellt sich der Erwin vor der Abfahrt vor, erklärt die Sicherheitseinrichtungen und die Strecke und sagt auch ein paar Worte zu sich. Ähnlich wie im Flugzeug also. Dadurch entsteht eine bessere Bindung zwischen Fahrer und Schülern.

Was ist mit Kindern, die nicht auf Klassenfahrt mitkommen?
Talmann: Kommt darauf an, warum sie nicht mitkommen. Wenn das Geld zu Hause nicht reicht, springt der Elternbeirat ein, und es gibt auch viele andere Töpfe, aus denen man Geld für so was bekommt. Wenn sich ein Schüler vor der Abreise zum Beispiel das Bein bricht oder Ähnliches, muss er am Unterricht einer anderen Klasse teilnehmen.
Drexler: Der umgekehrte Fall ist, dass zu wenige Kinder mitfahren können. Die Schulleitung schreibt häufig vor, dass ein bestimmter Prozentsatz der Klasse mindestens mitfahren muss. Wenn das nicht klappt, wird die Fahrt abgeblasen.

Warum dürfen so viele Schüler nicht mitfahren?
Talmann: Religion, Familiensituation, die Finanzen. Manche Eltern wollen sich nicht outen und zugeben, dass sie nicht genügend Geld für die Fahrt haben.
Drexler: Das stimmt. Bei uns bringen die Kinder oft ihr Bettzeug selbst mit. Ein Kind hatte mal Bettzeug dabei, das nur noch aus Löchern und Fäden bestand. Die Lehrerin hat danach zu uns gesagt: Nun versteh ich erst, warum die immer solche Schwierigkeiten hat, Schulsachen zu bezahlen. In der Schule können die Kinder das noch irgendwie übertünchen, aber auf den Fahrten kommt es dann raus. Und dann kann man ja auch helfen.




Text: christian-Helten - und Charlotte Haunhorst, Foto: Juri Gottschall

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