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Noah wird mein Name sein

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Am 26. Juni 2012 um 22.21 Uhr hat Noah unter dem Pseudonym jazzbertie seinen ersten Text bei jetzt.de veröffentlicht. Er wolle, so kündigte er damals an, verständlich machen, was er selber nicht verstehe. Seitdem hat er in mehr als 30 Einträgen regelmäßig darüber geschrieben, wie es sich anfühlt, als Mädchen geboren und erzogen zu werden, sich aber nicht als Mädchen zu fühlen. Dieser Text besteht aus Auszügen seiner bewegenden Einträge. Alle weiteren findest du unter jazzbertie.jetzt.de.

Achtung! Monster!
Morgens an der Bushaltestelle oder auf dem Pausenhof. Menschen in etwa so alt wie ich. Sie kennen mich nicht. Sie gucken nicht nett, eher – es ist schwer zu beschreiben – als sei ich ein Tier im Zoo. Sie gucken von oben herab. Leute, mit denen ich in der Grundschule oder in einem Sportverein war. Sie grüßen nicht. Stattdessen gucken sie und starren, als wäre ich ein Monster.  

Innensicht
Transsein ist selbstverständlich, es ist immer da, wie unsichtbar. Mein ganzes Leben über. Wenn ich mich umziehe, wenn ich dusche. Falsch. Es ist etwas, das ich nicht will. Ich will keine Brüste, keine Hüfte, nicht einmal das Wort „Frau“. Es fällt mir schwer, das zu schreiben, so tief und grundsätzlich ist meine Abneigung. Es ist ein inneres Widerstreben. Es ist nervig und tut weh. Ich kann aus Jungen- oder aus Mädchensicht denken. Die Jungenart ist entspannter. Als Mädchen ist alles krampfig, kompliziert, unangenehm. Mir ist es lieber, ein Junge zu sein. Das erscheint sehr einfach. Was es so elend und schwer macht, ist meine Umwelt. Ich muss es erklären, ich kann nicht einfach als ein Junge leben, ich muss es publik machen. Dadurch werde ich angreifbar, verletzlich, nackt. Es ist nicht gerecht, dass man sich outen, sich rechtfertigen, sich öffnen muss. Aber ich muss diese Ungerechtigkeit in Kauf nehmen, um glücklich zu sein. Denn es geht um das Glücklichsein.  

Woher ich es weiß
Meine frühesten Erinnerungen: Jedes Mal, wenn ich abends schlafen ging, wünschte ich mir, mit einem Penis aufzuwachen. Ich wusste, dass das nicht funktionieren würde, trotzdem war ich jeden Morgen enttäuscht. Ich hatte die Angewohnheit, in der dritten Person von mir zu denken, und dachte mich als „er“. Irgendwann fiel mir auf, dass da was nicht stimmte. Wenn meine Mutter mich und meinen Bruder zum Friseur schleppte, wollte ich meine Haare so ratzekurz wie er; leider durfte ich nie. Ich wusste, dass ich anders war als die anderen Mädchen, hoffte aber immer noch, mal eines zu treffen, das so war wie ich. Aber egal wo ich hinkam, nie war jemand wie ich. Also musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich anders war und alle anderen normal. Dann verliebte ich mich in ein Mädchen (und dann noch in weitere) und wurde sozusagen lesbisch. Aber auch da war niemand wie ich. Mir fielen wieder diese Geschichten ein, aus der Zeit, als ich klein war. Mir fiel auf, dass ich meine Brüste immer komisch fand, immer fehl am Platz, dass mir meine weibliche Körperform nicht gefiel. Dass da in mir diese Sehnsucht oder dieser Neid auf jeden Jungen oder Mann war. Und dann wusste ich, dass ich ein Transjunge bin, und band meine Brust ab, kaufte ein paar T-Shirts aus der Herrenabteilung und konnte wieder besser in den Spiegel gucken. Fand mit einer flachen Brust nicht mehr ganz so fremd, was ich da sah.  

Trans in der Schule
Am Anfang war es egal. Ich war sechs Jahre alt und hatte noch meine Freunde aus dem Kindergarten. Aber ab der dritten oder vierten Klasse hatte ich keine Freunde mehr. Die Jungs wollten mich nicht, und ich wollte nicht zu den Mädchen. Vier Jahre später kam ich auf das Gymnasium, auf dem ich heute immer noch bin, und fand da genau drei Freunde. Einen Freak und zwei Mädchen. Ich war eine ungepflegte und unglückliche Erscheinung. Unsere Freundschaft ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass wir niemals über Persönliches sprechen. In der Neunten kam ich in eine neue Klasse und wurde Teil einer Mädchenclique, mit der ich immer noch meine freien Stunden verbringe.  

Die ständigen Konstanten
1. Ignoranz. Warum nennt man mich, der fast perfekt aussieht wie ein Junge, „Frau Soundso“ oder „Mädel“? Ich finde das sehr unhöflich. Wobei ich es natürlich nachvollziehen kann.
2. Distanzhaltung von Leuten in meinen Kursen. Sie wollen nicht wirklich was mit mir zu tun haben, weil sie nicht wissen, wie sie mich einordnen sollen.
3. Sportunterricht macht keinen Spaß, wenn man sich mit den Mädchen umziehen soll. Es ist mir einfach peinlich. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn wir Schwimmunterricht hätten. Festzuhalten: Schule ist generell kein schöner Ort, aber für Transmenschen ungleich unschöner.  

Natur
In Diskussionen sagen Leute manchmal, dass Transidentität unlogisch sei. Weil man seinen Körper vor seinem Bewusstsein hat. Das ist wahr. Aber diese Feststellung ändert nichts für mich. Sie sagt, ich solle mich meinem Körper anpassen. Ich sage: Ich bin ein Mensch. Und einer der wesentlichsten Züge der Anthropologie ist das „Ich“, und es ist üblich, seinen Verstand über den Körper bestimmen zu lassen. Wenn ich Hunger habe, aber keine Lust aufzustehen. Wenn ich Instrumente spiele und mit hundertfachen Wiederholungen meinen Fingern Bewegungsabläufe einbläue. Noch nie hat zu mir jemand gesagt, Musiker seien absurd, weil sie ihren Muskeln „unnatürliche“ Bewegungsabläufe antrainierten. Aber ich soll meinen Körper als Grundlage für meine Identität nehmen? Bloß weil er schon länger da ist als mein Bewusstsein?  

Die Sache mit dem Namen
Ja, ich habe einen. Ich mag ihn. Aber: Es ist ein Mädchenname. Und das ist doof. Ich suche gerade einen neuen beziehungsweise probiere Provisorien aus. Aber immer bleibt deutlich, dass das so eigentlich nicht funktioniert. Man bekommt einen Namen. Der Name ist im Idealfall die Verwortlichung des Ichs. Das Grundsätzliche zur Selbstidentifikation. Ein Name beschützt einen, ein Name macht einen zum Individuum, zum Menschen. Und gleichzeitig ist es Zufall, wie man heißt. Was ich anstrebe, ist ein Ding der Unmöglichkeit: einen neuen Namen, der eine Verwortlichung meines Ichs ist. Das ist ein übertriebener Anspruch. Den Namen, den ich momentan benutze, mag ich nicht wirklich, der einzig gute Aspekt ist: Er fängt mit N an, und ich kenne niemanden, der so heißt. Sobald ich unter einem anderen Namen auftrete, habe ich das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Die Rolle meines Lebens. Aber das ist kein Spiel, das ist Ernst. Ernster geht es nicht.  



„Im falschen Körper geboren“
Stereotypen und Allgemeinplätze sind nötig, um etwas einfach zu erklären. Zum Beispiel Transidentität: Man sagt, jemand sei „im falschen Körper geboren“ oder „fühle sich als …, sei aber biologisch …“ Ich verstehe, dass es notwendig ist, aber es stört mich auch sehr. Denn nicht mein ganzer Körper ist falsch (meine Nase ist super oder mein Muttermal), und meine riesengroße und einzigartige Persönlichkeit wird durch pauschale Wendungen heruntergebrochen, herabgesetzt. „Transident“ ist ein Label, eine Schublade, etwas, damit andere es fassen können. Ich könnte diesen Umstand auch „Pustekuchen“ nennen. Es wäre gar kein Unterschied. Außer, dass ich es deutlich toller fände.  
NOAH
wird mein Name sein. hehe :–)  

Coming-out
Montag ist Stichtag: Ich werde mich vor jeden meiner verdammten elf (!) Kurse stellen und sagen, wer ich wirklich bin. Ich habe Angst, ich habe Panik. Aber es geht nicht mehr anders. Ich habe es Mittwoch so mit meinem Stammkursleiter besprochen. Dieses Coming-out ist ambivalent: Es ist das Schrecklichste, denn es ist schlimm, mich Menschen, die ich verabscheue, öffnen zu müssen. Es fühlt sich an, als verkaufte ich meine Seele. Ich entblöße mich und bin auf positive Reaktionen angewiesen. Und es ist das Schönste, das ich in meinem Leben getan habe. Ich werde leben können, wie ich es will, ich muss mich nicht mehr verstecken, ich übernehme die Verantwortung für mein Schicksal. Und: Morgen erster „richtiger“ Psychotherapie-Termin. Wozu? Der Therapeut stellt die Indikation für die medizinische Angleichung, das heißt Hormonbehandlung und Operation. Und er schreibt das erste von zwei Gutachten für die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung. 

Coming-Out
Ich habe eine Rede gehalten. Und nach dem dritten Mal frei gesprochen:

„Ich bin transident. Ich bin kein Mädchen, keine Frau. Ich bin ein Junge.
Einer von tausend Menschen ist transident, und an dieser Schule sind wir sogar mindestens zu zweit. Transidentität ist angeboren und bedeutet, dass sich jemand mit seinem zugewiesenen und anerzogenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Einige Frauen haben XY- und einige Männer XX-Chromosomen. Einige sind einfach nur Menschen. Identität hat nichts mit dem körperlichen Geschlecht zu tun. Und trans zu sein ist keine Krankheit.
Ich wünsche mir, seit ich mich erinnern kann, als Junge zu leben. Leider kam nie ein Zauberer, um mich zu verwandeln. Also werde ich mein eigener Zauberer sein und ab sofort als „Noah“ und mit maskulinen Pronomen herumlaufen. Ich werde nicht mehr auf etwas anderes reagieren. Wenn sich einer mal verspricht, ist das kein Ding, aber nicht mit Absicht. Weil es wehtut (und ich auch herausfinden muss, ob Dinge besser werden, wenn ich mein Leben als Junge führe).
Wenn ihr Fragen habt – Was sagen deine Eltern dazu? Wie bist du auf den Namen gekommen? Welches ist dein Lieblingshaustier? –, dann fragt ehrlich und ohne Scheu.“

Es gab keine Fragen, dafür gute Akzeptanz. Yeii! Der Nase nach segelt Noah ins Unbekannte.

Jungszimmer
Ich bin wieder zu Hause, von meiner einwöchigen Schulfahrt. Schön war’s: Zwar durfte ich, wegen Weigerung einiger Jungs, nicht in das Zimmer, in das ich wollte; aber dafür mit zwei anderen, die sehr nett und freundlich waren. Yeah! Am schönsten war es, mit den Worten „Da ist noch ein Herr, der hier nicht hingehört“ nachts aus einem Mädchenzimmer geworfen zu werden. Eine Woche nur „Noah“: Es fühlt sich komisch und ungewohnt an, aber schon besser als am ersten Tag. Über die Hormontherapie habe ich mir gedacht: Eines Tages werde ich sie machen. Absolut sicher. Aber ich will so lange damit warten wie möglich. Unabhängigkeit! Aber erst kommt morgen meine kleine Verwandte, und ich werde meine „Trans Pride“-Sachen weghängen. Meine restliche Verwandtschaft und das Kaff, in dem ich wohne, haben noch keine Ahnung, und ich will sie nicht in mein Doppelleben hineinziehen.  

Oszillation
Oszillation ist das Schwanken zwischen den Extremen. In meinem Fall: Euphorie versus Verzweiflung. Ich war beim Friseur, sehe dementsprechend schick aus und habe Montag einen Termin mit einer neuen Psychotherapeutin. Und da fängt das Elend doch an: eine neue Therapeutin, weil der alte ein unverschämter Vollidiot war, der nach zwei Gesprächen mit mir meiner Mutter vorgeworfen hat, ich könne mich nicht als Frau identifizieren, weil sie mir nie eine weibliche Rolle vorgelebt habe. Des Weiteren sei ich nur neidisch auf meinen Bruder und wolle nicht erwachsen werden. Was für ein Armutszeugnis des Jugendpsychiatriesystems. Ich, der ich seit Monaten einen verfluchten Therapieplatz suche, auf Wartelisten von Sprechstunden stehe und nur weitergeschickt werde. Ich will so gern mein Leben in den Griff bekommen. Aber wie???  

Zwei Welten
Schule ist gut, Schule ist der Ort, an dem ich Noah bin. An dem ich meine Freunde treffe und mit ihnen lache. Ich faile in Latein und Mathe und mit meinen Deutschaufsätzen, aber sonst ist es fein. Und es wird Frühling, und da ist Licht und Wärme und Farben! Aber die Welten, in denen ich noch „Mädchen“ zu sein scheine und meinen Namen hasse! Ich will den Vorhang herunterreißen! Ich müsste mit meiner Familie reden. Mit wie vielen Menschen lebe ich zusammen, mit denen ich noch nie geredet, wirklich ein ernsthaftes, persönliches Gespräch geführt habe? Es sind zu viele. Also: Der Plan hat sich nicht geändert, den Weg gehe ich weiter bis ans Ziel, weil es für mich keine andere Möglichkeit gibt, nicht in Depression zu versinken. Aber es ist ein anstrengender, schmerzhafter, frustrierender, langer, einsamer Weg. Ahoi!  

Das Entweder-Oder
Es gibt zwei Möglichkeiten. Weiterleben wie bisher, also ein Doppel-leben – halb Junge, halb Mädchen. Mich in einem Jahr nach dem Abi wegschleichen und irgendwo ein neues, richtiges Leben anfangen. Aber ich habe Freunde hier. Ich werde zurückkommen, mindestens um meine Familie zu besuchen. Dann müsste ich allen Leuten von früher aus dem Weg gehen. Das wäre nicht fair und widerspricht meiner Moral. Ich kann nicht einfach so von den Menschen, mit denen ich viele schöne Stunden verbracht habe, abhauen. Das ist zu anstandslos und unwürdig und respektlos. Wenn ich trans leben will, muss ich mich also outen. Ich weiß noch nicht, wann und wie und wo anfangen. Aber das ist immerhin meine momentane theoretische Grundlage für die Zukunft.

Noah kriegt Blocker
Juhu! In 21 Tagen habe ich einen Termin in der Uniklinik Frankfurt in der endokrinologischen Sprechstunde. Dann bekomme ich (nehme ich an) keine Blocker, sondern Blut abgenommen und einen Zettel für meine Eltern (minderjährig, oder was?). Aber dann, dann krieg ich Blocker. Ich weiß nicht ganz genau, was die bewirken, auf jeden Fall aber Folgendes: Der hormonelle Status wird in den eines Kindes überführt. Wie sagte ein Freund von mir? Eigentlich bewirken sie nichts. Es wächst halt nichts weiter, und Mensch menstruiert nicht mehr. Noah ist schon ziemlich aufgeregt.  

Resumee  
Ein Jahr ist es her, dass ich zum ersten Mal hier geschrieben hab. Ich wollte mich herausbrüllen, der Welt offenbaren, wie ich bin, und hab es mich nicht getraut. Der Witz ist, dass ich immer noch nicht so richtig weiß, wer ich bin. Ich bin ermüdet und erschöpft von dem ganzen Definitionsgemöbs. Ich will einfach nur sein. Mir ist es nicht sehr wichtig zu sagen: „Ich bin männlich!“ Ich bin Mensch und Ich in mir. Aber es ist wichtig, dass ich als männlich angesehen und genommen werde. Gelegentlich definiere ich mich innerlich stark als männlich, aber meistens ist es nur eine Anti-Definition zu weiblich. Ich suche eine Form, gut leben zu können. Begutachtung – Coming-out – Therapie – Hormonblocker.

Eine Erfolgsgeschichte? Es ist kein Erfolg, dass ich bei etwa meiner halben Familie noch ungeoutet bin, einfach weil ich Angst habe. Nicht vor ihnen, sondern vor mir selbst. Weil ich vielleicht doch unsicherer bin, als ich möchte. Vieles wird anscheinend nicht besser. Aber ich weiß nicht, woran das liegt, und vielleicht ist es ja besser geworden, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ich habe zum Beispiel so viele nette Menschen kennengelernt und Freundschaften geknüpft und vertieft. Allerdings ist es ein Erfolg, dass ich geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Es ist ein Erfolg, tatsächlich als Junge erträglicher leben zu können. Ich bin freier, ich bin weniger gehemmt, ich verfüge über mehr Verhaltensweisen, ich bin weniger aggressiv und werde nicht ständig von meinem alten Namen getriggert. Es ist ein Erfolg und Geschenk, dass die anderen mich akzeptieren. Ich gehe mit den anderen Jungs in die Umkleide und auf das Klo. Ich kann meinen Namen auf Kursarbeiten schreiben und werde mit meinem Namen aufgerufen. Mein Stammkurs-Deutschlehrer hat sogar erreicht, dass mein Zeugnis meinen Namen trägt.
Das ist alles wichtig für mich.
Weil ich anders ersticke.

Text: jetzt-redaktion - Illustration: Robert Dünnweller

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