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Mit jedem Klassenzimmer ein Stück älter.

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In der fünften Klasse lernte ich im Keller. Denn der Gang, in dem die jüngsten Schüler meines Gymnasiums untergebracht waren, lag im untersten Stockwerk. Von der Eingangshalle führte eine Treppe hinunter, und dann konnte man geradeaus durch eine Tür zu den Toiletten gehen oder links abbiegen, ins Dunkle und zu den Fünfern. Die klumpten sich morgens vor der verschlossenen Feuerschutztüre, die in ihren Gang führte, bis der Hausmeister kam und sie aufschloss. Und sie machten brav Platz, wenn ältere Schüler auf dem Weg zum Klo vorbeikamen: die Sechser und Siebener aus dem ersten Stock, die Achter und Neuner aus dem zweiten, die Zehner aus dem dritten. Und die Oberstufenschüler aus dem Nebengebäude, dessen Betreten vor Erreichen der elften Klasse streng verboten war.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Auf dem Gymnasium konnte ich sehr gut beobachten, wie ich älter wurde. Weil ich jedes Jahr in einen neuen Raum zog, mindestens alle zwei Jahre in ein neues Stockwerk und am Ende sogar in ein anderes Gebäude. Gemeinsam mit Menschen in meinem Alter, die in Mathe neben mir stöhnten, die Umkleidekabine mit mir teilten und mir im Kunstunterricht den Farbkasten liehen, beobachtete ich, wie die Menge an Schülern im Gebäude, die jünger waren als wir, jedes Jahr wuchs. Die Menge derer, die älter waren, schrumpfte im Verhältnis dazu. Wir bewegten uns in einem Raum, der das Alter eines jeden darin abbildete, anhand der Gänge und Räume und Gebäudeteile. Wie Lettern in einem Setzkasten hatte jede Gruppe ihren Platz und ihren Status. Manchmal sogar eine Aura. Spätestens in der neunten Klasse fing man nämlich an, sich in Oberstufenschüler zu verlieben. Nicht nur, weil sie süß waren und manchmal sogar schon ein bisschen Bart hatten, sondern weil sie im Oberstufengebäude verschwanden, als gingen sie durch ein geheimes Portal in ein verborgenes Königreich. In Wirklichkeit lagen hinter dem Portal natürlich nur das Treppenhaus und Schließfächer mit stinkenden Turnschuhen drin. Hätte ich damals nicht dieses Bezugssystem aus Fünfern mit zu großen Rucksäcken, Neunern mit Akne und Dreizehnern mit Zigaretten gehabt, wäre mir das Größerwerden sicher weniger aufgefallen. Man schaut ja nicht dauernd an sich herunter und sagt: „Oha, wieder zwei Zentimeter mehr als im letzten Jahr!“ oder: „Ich seh viel reifer aus als in der Neunten!“ Aber wenn ich zu Beginn eines neuen Schuljahrs morgens zu den Toiletten ging, mitten durch diesen Klumpen aus Zehn- und Elfjährigen mit Schnupfnasen in Anoraks, dann war die durchschnittliche Höhe dieses Klumpens schon wieder etwas niedriger geworden und die Kulleraugen noch etwas kindlicher als im Vorjahr.

Heute stelle ich mir mein Schulgebäude manchmal im Querschnitt vor. Dann sehe ich auf den ersten Blick einen wilden Ameisenhaufen, auf den zweiten aber ein geordnetes System. Wenn man als Schüler da hindurchtransportiert wird, weiß man immer genau, wo man sich befindet, in welchem Verhältnis zu den anderen man steht und welchen Status man in diesem Gefüge hat. Am Ende wird man oben, zwanzig bis vierzig Zentimeter größer, ausgespuckt und landet in der Welt, die erst einmal überhaupt nicht mehr nach diesem Prinzip funktioniert. Sie ist ziemlich chaotisch, und es ist viel schwieriger als vorher, jemanden zu finden, der dir seinen Farbkasten leiht. Keiner sagt mehr: „Das ist dein Stockwerk, das ist dein Raum, und das sind deine Klassenkameraden“, und die Fünfer, die dir acht Jahre lang das Gefühl gegeben haben, überlegen zu sein, sind auf einmal auch nicht mehr da. Es gibt keinen Keller und keine Gänge mit Feuerschutztüren mehr. Dafür gibt es auf einmal sehr, sehr viel Unordnung und ebenso viele Möglichkeiten, tausendmal mehr als auf dem Schulhof. Und dann muss man halt einfach losgehen und einen neuen Platz finden.

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