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"Ich kann Schmerz genießen"

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jetzt: Das Leben ist die beste Schule. Stimmt das?
Amir Kassaei: Definitiv. Das Leben ist die härteste und beste Schule.

Ist eine harte Schule gleichbedeutend mit einer guten Schule?
Das kann ich nicht sagen, weil das wohl von Mensch zu Mensch verschieden ist. Aber was man am härtesten erkämpft hat, ist am wertvollsten. Das ist meine Erfahrung.

Sie waren Kindersoldat im Ersten Golfkrieg. Kann man sogar aus so schlimmen Erfahrungen etwas fürs Leben lernen?
Die Erfahrungen als solche sind weniger wichtig. Ich konnte als Kind eine Kalaschnikow mit geschlossenen Augen zusammenbauen. Wahrscheinlich würde ich das heute auch noch hinkriegen. Aber das Einzige, was ich wirklich mitgenommen habe, ist, dass es im Leben ganz wenige Dinge gibt, die wichtig sind, und dass rundherum ganz viel Schein ist. So eine existenzielle Erfahrung, wie mit 14 Jahren als Soldat zu kämpfen, schärft das Bewusstsein für das Wichtige. Das hat mich gelehrt, dass man grundsätzlich fähig sein muss, sich immer in eine Situation zu begeben, in der man mit wenig leben kann. Das hilft mir, in meinem Job gut zu sein. Weil ich keine Angst habe, etwas zu verlieren. Weil ich alles riskieren kann. Jederzeit.

Was haben Sie zum Beispiel riskiert?
Als ich jünger war, habe ich zum Teil kranke Sachen gemacht. Ich bin für eine Mercedes-Kampagne zur Deutschen Bank gegangen und habe einen Privatkredit aufgenommen. Mercedes wollte die Kampagne nicht machen, weil sie kein Budget hatten. Ich habe den Kredit aufgenommen, weil ich die Kampagne geil fand und sie realisieren wollte. Für den Kunden war das der Beweis, dass ich es wirklich ernst meine. Dann haben sie das Geld zusammengekratzt. Das hätte auch schiefgehen können, und ich hätte mit unheimlich vielen Schulden dagestanden.

Sie sind mit 16 aus dem Iran über die Türkei nach Wien geflüchtet. Wie haben Sie sich in Österreich durchgeschlagen?
Durch meine Flucht nach Europa habe ich tatsächlich am meisten gelernt. Ich habe in einem Crashkurs am Goethe-Institut vier Monate Deutsch gelernt und bin dann auf die Schule gegangen. Ich musste zwei Klassen in einem Jahr machen, weil meine Zeugnisse nicht anerkannt wurden. Und nebenbei habe ich angefangen, meine neue Existenz aufzubauen.

Wie haben Sie sich über Wasser gehalten?
Ich habe alles gemacht. Paketieren in der Poststelle am Bahnhof, Straßen reinigen, Schnee räumen, Toiletten putzen. Mein bester Job war Campingplatzeinweiser in den Ferien – mit dem Fahrrad herumfahren und die Wohnwagen einweisen. Das war damals mein Traumjob.

Haben Sie von solchen Erfahrungen profitiert? Das sind ja Dinge, die viele der Akademiker, denen Sie tagtäglich begegnen, nicht machen mussten.
Man kann den Menschen ihren Hintergrund nicht vorhalten. Wer aus gutem Hause kommt, kann ja nichts dafür. Auch ich kann für mein komisches Leben nichts. Es gab Situationen, in denen mir nichts anderes übrig blieb, als gewisse Jobs zu machen. Es ging wirklich ums Überleben. Das prägt. Weil man weiß, dass man auch zurechtkommt und sein Glück finden kann, wenn man nichts hat und deshalb im Prinzip nichts verlieren kann. Aber das Entscheidende ist: Wenn man das Glück hat, so schnell wie möglich das zu finden, was man liebt, dann macht man das automatisch gut. Weil es eine Herzensangelegenheit ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wäre es besser, wenn mehr Leute so was durchmachen müssten – nichts zu haben oder zumindest sich alles selbst finanzieren zu müssen?
Es ist schon wichtig, dass man seinen eigenen Weg gehen muss und nicht zu viel von anderen erwarten kann. Das prägt die Persönlichkeit. Und man muss sich auch später im Leben sicher mal die Frage stellen, was man selber aus seinem Leben gemacht hat. Was ist dein Beitrag gewesen, welche Schritte bist du selbst gegangen, und welche hat ein anderer für dich gemacht? Es geht mir nicht darum, dass man Leid ertragen muss. Aber man muss trotz der Sicherheit im Hintergrund was Eigenes machen und darf kein ferngesteuertes Irgendwas werden.

Müssen Ihre eigenen Kinder ihr Studium eigentlich selbst finanzieren?
Ja, selbstverständlich. Meine älteste Tochter hat gerade Abitur gemacht. Ihr versuche ich zu vermitteln, dass sie das Glück hat, behütet aufzuwachsen und im Notfall jemanden zu haben. Aber sie soll ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihr eigenes Geld verdienen.

Sie treten ganz gern provokant auf und gelten nicht gerade als diplomatisch. Diesen Kampfgeist haben Sie sicher auch nicht in der Schule gelernt, oder?
Ich war alles andere als der klassische Musterschüler. Meine Lehrer sind teilweise an mir verzweifelt. Aber im positiven Sinne – weil ich alles hinterfragt und nichts als gegeben genommen habe. Ich habe immer Autoritäten infrage gestellt. Es geht dabei nicht um Provokation an sich, sondern darum, wahrhaftig zu sein. Wenn man Leuten den Spiegel vorhält, ist das nicht immer schön. Wenige Leute können mit der Wahrheit umgehen.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie auf Ihrem Lebensweg Risikobereitschaft gelernt haben. Hat Sie das dazu veranlasst, bei der großen Werbeagentur Springer & Jacoby zu kündigen, als Sie es dort gerade geschafft hatten, und dann die Agentur DDB zu übernehmen, die zu der Zeit ziemlich vor sich hindarbte?
Ich habe meine beruflichen Karriereentscheidungen nie aus Titelgeilheit oder Geldgründen getroffen. Das interessiert mich nicht. Ich habe immer versucht, in eine Position zu kommen, in der ich inhaltlich etwas verändern kann. Das hat mich getrieben. Die Messlatte war die Frage: Was schaffst du noch? Wie viel sind dein Können, Talent und Wille, und wie viel ist die Firma Springer & Jacoby? Ich wollte selber im Regen stehen und sehen, ob ich es hinkriege – auch ohne den Schirm von Springer & Jacoby. Ich bin ein Mensch, dem es langweilig wird, wenn alles funktioniert. Wenn es keinen Mount Everest gibt, sondern da nur ein Hügel steht, den man auch rückwärts raufwandern könnte, dann interessiert mich das nicht.

Nervt Sie dieser Drang nicht manchmal selbst?
Das ist das Manko, das ich aus meiner Lebensgeschichte davongetragen habe: dass es mir schwerfällt, mich fallen zu lassen. Ich bin ein rasender Zug, der nie stehen bleibt. Ich habe immer noch eine Anspannung im Körper, die ich nicht hinausbekomme.

Ist das Vollgas-Leben eine Art, vor schlimmen Erinnerungen davonzulaufen?
Kann sein, dass ich vor mir selber davonlaufe. Vielleicht bin ich aber auch auf dem Weg zu mir. Denn die Erinnerungen werde ich nicht los. Das sind Wunden, die man verdrängen und positiv interpretieren kann. Das versuche ich. Aber loswerden kann ich sie nicht.

Am Anfang Ihres Berufslebens haben Sie als Marketing­assistent gearbeitet und dann in einer Werbeagentur Buchhaltung gemacht. Aber Sie wollten in die Kreativabteilung und haben nachts noch Kampagnen entworfen. Dafür haben Sie auch Spott geerntet. Hat Ihnen der zugesetzt?
Der hat mich motiviert. Das ist vielleicht das Kranke bei mir: dass es mich zu Höchstleistungen antreibt, wenn keiner an mich glaubt. Wie in der 90. Minute eines Fußballspiels, wenn es 2:0 gegen dich steht und die Zuschauer das Stadion verlassen, weil sie nicht mehr an dich glauben. Das sind die Momente, in denen ich aufwache. Zugesetzt hat mir der Spott also nicht wirklich. Ich habe gesagt: Ich will es machen und werde es probieren. Und wenn ich von zehn Versuchen neunmal gegen die Wand renne, versuche ich es weiter. Das klingt jetzt nach einer Phrase, aber ich persönlich habe diese Erfahrung gemacht: Wenn man etwas wirklich will, schafft man es.

Talent spielt also keine Rolle?
Nein, das ist keine Frage des Talents. Ich habe mir damals eingebildet, dass ich ein Kreativer sein kann. Ich fand das faszinierender als meinen Job, aber ich wusste nicht, ob ich das kann. In der ersten Zeit bei Springer & Jacoby habe ich wirklich nichts zustande gebracht. Nach einem halben Jahr hat mir mein Kre­ativdirektor im Probezeitgespräch gesagt, ich sei nicht gut genug. Dann habe ich das Team gewechselt, und es begann zu laufen. Aber es war nicht so, dass alle gesagt haben, ich sei ein Jahrhunderttalent und werde meinen Weg schon machen. Das ging nicht über Talent, sondern über den Willen. Es gibt viel talentiertere Texter und Werbekonzepter als mich. Aber ich habe den Willen. Es gibt wahrscheinlich wenige in unserer Branche, die so über die Schmerzgrenze gehen wie ich.

Ist Hartnäckigkeit also Ihre wichtigste Fähigkeit?
Ich kann Schmerz genießen. Das kennen Sie vom Marathonläufer. Ich bin noch nie einen gelaufen, aber ich habe gehört, dass es da diesen „schwarzen Moment“ gibt, so nach 20 oder 30 Kilometern, wenn Geist und Körper sagen: Du kannst nicht mehr, du hörst jetzt auf. Über diesen Punkt hinauszugehen, diesen Zustand zuzulassen, zu genießen und dann noch mal neue Kräfte zu entwickeln – das kann ich sehr gut.

Wie sehr hat das mit Ihrer Lebensgeschichte zu tun?
Das hat bestimmt damit zu tun. Das ist aber auch ein klassisches Einwandererding. Unser Kampf ist ja ein Kampf um Anerkennung, ums Dazugehören. Und der hilft. Wenn nichts selbstverständlich ist, ist das ein guter Grundzustand. Wenn man sein Lebens­ziel nicht materiell ausrichtet, sondern inhaltlich, wird es immer weitergehen.

Fällt Ihnen Veränderung leicht, weil Sie sich in Ihrer Jugend so oft verändern mussten?
Meine Lebenserfahrung gibt mir Flexibilität im Kopf. Offenheit für Probleme, Aufgaben und Hürden. Und wenn man ein guter Kreativer sein will, muss man diese Veränderungswilligkeit haben. Weil wir immer versuchen, Neues zu entwickeln. Dafür braucht man Flexibilität im Kopf. Ich spiele auch extrem gern Schach – und zwar Blitzschach, drei Minuten pro Spiel. Da kommen Sie nicht zum Nachdenken. Sie müssen im Kopf so flexibel bleiben, dass Sie intuitiv die richtige Entscheidung treffen. Das finde ich faszinierend und auch im Leben wichtig. Wer flexibel ist, wird auch in seiner Karriere bereit sein, sich zu verändern.

* In Jeans und hellbrauner Lederjacke tritt Amir Kassaei, 42, aus dem Terminal­gebäude am Nürnberger Flughafen. Er ist auf dem Weg zu einem Termin bei Adidas in Herzogenaurach, jetzt will er aber erst mal eine rauchen. Kassaei ist internationaler Kreativchef der Werbeagentur DDB und nach eigenen Angaben 300 Tage im Jahr unterwegs. Gestern war es Hamburg, heute ist es Nürnberg, morgen Berlin, dann New York. Kassaeis Leben steckte eigentlich schon nach 14 Jahren in einer Sackgasse. Der gebürtige Iraner musste in den frühen Achtzigern im Ersten Golfkrieg gegen den Irak kämpfen und dort unter anderem zusehen, wie ein guter Freund von einer Mine in den Tod gerissen wurde. Seine Eltern hatten später das Geld, ihn im Kofferraum eines Autos in die Türkei schleusen zu lassen. Er schlug sich nach Wien durch, machte Abitur und studierte in Frankreich Wirtschaftwissenschaften. Danach arbeitete er in der Werbebranche, wurde bei Springer & Jacoby, einer der größten deutschen Agenturen, Kreativchef – und kündigte, um den damals darbenden deutschen Zweig des Konkurrenten DDB zu leiten. Der Agentur geht es mittlerweile wieder gut, Kassaei ist seit Anfang des Jahres Kreativchef aller 96 Dependancen auf der Welt.

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Text: christian-helten - Illustration: Joanna Swistowski

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