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Geteilte Stadt

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Klaus Schellhaas, 45, Lehrer für Deutsch, Englisch und Gemeinschaftskunde am Evangelischen Mörike-Gymnasium in Stuttgart: „Als Lehrer darfst du kein ängstlicher Mensch sein. Wer anfängt, sich zu viele Gedanken zu machen, kann direkt zu Hause bleiben. Wenn etwas schiefgeht, kriegen zuerst wir auf den Deckel. Es braucht nur einer vors Auto zu laufen - nicht auszudenken, was da los ist. Mein schlimmster Albtraum wäre der Tod eines Schülers auf Studienfahrt. Auch Drogenmissbrauch und dass die Schüler zu viel trinken sind so Ängste. Bisher ist aber immer alles gut gegangen. Damit das so bleibt, haben wir da ganz   klare Regeln aufgestellt: Rauchverbot, Alkoholverbot, um 23 Uhr sind alle auf den Zimmern. Wir glauben natürlich nicht, dass sich alle daran halten werden. Wir waren ja auch mal jung.“

Der Konflikt zwischen Lehrern und Schülern lässt sich in zwei Ziffern und drei Buchstaben auf den Punkt bringen: 23 Uhr. Für die einen verbindet sich damit die Hoffnung auf ein bisschen Ruhe nach einem Tag voller S-Bahn-Fahrten und Diskussionen mit 78 oft übellaunigen Halbstarken. Für die anderen der Ärger über eine verpasste Nacht in der Stadt, die vielen derzeit als das Feierzentrum Europas gilt. 22:55 Uhr, ein warmer Juliabend. Die Jahrgangsstufe I des Evangelischen Mörike-Gymnasiums Stuttgart steht vor ihrem Hotel unweit des Bahnhofs Zoo, ihnen gegenüber Klaus Schellhaas, der das Programm der kommenden Tage diktiert: Museen, Mahnmale, Minigolf. „Und morgen geht es um 7:30 Uhr los“, ruft Schellhaas, „also seht zu, dass ihr rechtzeitig ins Bett kommt, damit ihr es vorher zum Frühstück schafft.“ Einige der Schüler sind bereits 18, andere haben die Volljährigkeit fast erreicht. Will man sich in diesem Alter sagen lassen, wann man im Bett zu liegen hat, wie viele Zigaretten man rauchen und was man trinken darf? Einige aus der Gruppe scheinen das nicht zu wollen. „Heute Nacht geht es in die Stadt, dann kriegst du richtig gute Bilder“, raunen sie dem Fotografen zu, bevor sie im Hotel verschwinden.



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Mittwochmorgen, kurz vor 7 Uhr. Mit müden Augen drängen die Schüler in den Speisesaal und stellen sich an, um Nuss-Nougat-Creme und Pflaumenmus aus Stahlspendern auf Brötchen zu drücken. Trotz aller schlechten Absichten sind sie gestern doch im Hotel geblieben. „Weggepennt.“ Ärger gab es trotzdem.

Schellhaas: „Wir hatten Schwierigkeiten, weil in einem Zimmer keine Ruhe einkehren wollte. Die Jungs sind durchs Fenster aus dem ersten Stock gestiegen. Der Hotelwachmann hat uns das gemeldet, und wir haben für Ruhe gesorgt. Alles nicht so wild eigentlich, aber leider war bei den Schülern wenig Einsicht da. Wir haben ihre Eltern angerufen. Wenn noch etwas ist, fahren sie nach Hause. Auf eigene Kosten.“

Till Holzapfel, 17: „Wir wollten nur schnell eine rauchen. Aus dem Haupteingang konnten wir ja nicht gehen, weil es nach 23 Uhr war. Nachdem der Wachmann uns erwischt hat, haben die Lehrer sich direkt vor unserer Tür postiert. Wir durften nicht mal mehr raus, um uns ein Wasser an der Hotelbar zu kaufen.“



Mittwoch, 7:35 Uhr. Mit der S-Bahn-Linie 7 geht es in Richtung Regierungsviertel. Ab 9 Uhr steht eine Führung durch den Bundestag auf dem Programm, danach ein Besuch in der Abgeordneten-kantine. Mittagessen im Zentrum der Macht.

Schellhaas: „Für mich als Politiklehrer ist es ein Highlight, einmal im Reichstag zu sein. Das letzte Mal war ich als Student mit Freunden in Berlin, Silvester 1989. Die Grenze war damals auf, aber die Mauer stand noch. Mit Hammer und Pickel haben wir geholfen, sie einzureißen. Für mich ist es spannend, Berlin ungeteilt zu erleben, als Hauptstadt. Mir ist es wichtig, dass die Schüler mit eigenen Augen sehen, wo die Politik gemacht wird, und es nicht nur in Schulbüchern lesen.“



Mittwoch, 14:13 Uhr. Ernüchtert sitzen die Schüler auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals in der Nähe des Brandenburger Tors. Der Besuch im Bundestag war weniger aufschlussreich als erhofft. Auf das Essen im Paul-Löbe-Haus mussten sie über eine halbe Stunde warten. Nun knallt Sommersonne auf müde Köpfe, das macht es auch nicht besser. „Sie sind genervt“, sagt Schellhaas. Ein Kollege nickt: „Nach dem Essen war es wirklich schwierig, sie wieder zusammenzubekommen. Wie eine Schafherde.“ Man müsse nun aufpassen, dass sich niemand verdünnisiere, sagt Schellhaas.


Florian „Flo“ Schuster, 17: „Wir sollten ja eine Abgeordnete treffen, aber die hatte im Endeffekt keine Zeit für uns. Stattdessen hat uns eine Frau erzählt, wie der Adler im Plenarsaal aussieht und auf was für Stühlen die Abgeordneten sitzen. Dann durften wir hoch in die Kuppel gehen. Der Blick auf Berlin war schön. Aber es wäre  auch gut gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie es im Reichstag läuft.“

Till: „Wer hat etwas zu sagen, wer bestimmt, wie ein Gesetz aussieht, wie ist es, über Monate Wahlkampf zu führen? Darüber hätte ich gern mit ein paar Politikern gesprochen. Ich hätte sie gefragt, was sie den ganzen Tag treiben und wie viel sie mit den Menschen zu tun haben, die sie repräsentieren.“

Mittwoch, 16:20 Uhr. Nach dem Besuch im Mauermuseum am Checkpoint Charlie, das Emily, 17, später als „sehr textlastig und sehr verkramt“ beschreibt, haben die Schüler den Nachmittag frei und bestimmen selbst, wohin es geht.

Emily Seger, 17: „Ich war die meiste Zeit mit Lexi unterwegs. Aus dem Reiseführer habe ich schon im Zug das Jüdische Museum und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand rausgesucht, in der es um Menschen geht, die etwas gegen Hitler getan haben. Na ja, shoppen waren wir auch, am Alex und am Ku’damm. Es gibt hier mehr kleine, stylische Geschäfte, nicht nur die großen Ketten. Die Leute sind hipper, alternativer und jünger. Stuttgart ist dagegen schon so eine kleine Bonzenhochburg. Auf der Straße siehst du vor allem alte Menschen in Polohemden.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert




Mittwoch, 17:52 Uhr. Treffpunkt Spreeufer. Stadt und Fluss leuchten, aber die Gruppe kann das Nachmittagslicht nur kurz genießen. Stattdessen geht sie ins „D light“, eine Disco für Schulgruppen. Beginn der Party: 18 Uhr. Ende der Party: 22 Uhr. Zwischendrin darf niemand das „D light“ verlassen. Ein Mitarbeiter der Disco stimmt die Jahrgangsstufe I auf die Feier ein. Dann nennt er „die wichtigsten Regeln“ des „D light“: „Keine Waffen, keine Drogen!“ Er sagt das in bedeutungsschwerem, verschwörerischem Ton. Ein bisschen klingt er, als wolle er etwas als aufregender und verruchter beschreiben, als es dann tatsächlich ist. Die Schüler ziehen die Augenbrauen hoch. Dann stellen sie sich in die Schlange vor dem Eingang. Von drinnen dringen Sommerhits in den Friedrichshainer Frühabend.

Alexandra „Lexi“ Claus, 17: „Die Idee mit der Kinderdisco ist ja süß und sicher lieb gemeint von den Lehrern. Aber dass wir hier eingesperrt sind? Das kann doch nicht gut gehen. Warum besuchen wir nicht einen richtigen Club? Ich hätte gar nichts dagegen, zusammen mit den Lehrern zu feiern. Hauptsache, wir sitzen nicht um 23 Uhr auf unseren Hotelzimmern fest – oder hier. Ich finde es sehr schade, dass wir in einer Stadt sind, in der wir nachts so viel erleben könnten, es aber nicht dürfen.“

Klaus Schellhaas und seine Kollegen haben sich unterdessen in die „Lehrerlounge“ gesetzt. Wer dort hineinblickt, sieht Pädagogen mit langen Gesichtern auf zerkratzten Bierbänken warten. Wer  hinausschaut, sieht 13-Jährige unter einer Lichtorgel tanzen. Die Schüler vom Mörike sieht er nicht. Sie stehen vor dem „D light“ im Raucherbereich, der von einem Bauzaun begrenzt wird. „Stuttgart ist viel geiler als Berlin“, singen einige, bis ein Security-Mitarbeiter sie über den Zaun anherrscht, dass sie gefälligst aufhören sollen, auf den Stehtisch zu trommeln, um den sie sich drängen.

Till: „Mir geht es körperlich schlecht, weil ich hier sein muss. Eben habe ich mich an einer Glasscherbe geschnitten und den Türsteher gefragt, ob ich rausdarf, zu einem Arzt. Er hat mir ein Pflaster gegeben. Dann hat er gesagt, ich soll weiter- feiern. Sie haben auch einen Security-Mann hinter dem Zaun postiert, der jeden abfängt, der abhauen möchte. Das Schlimme ist, dass sie juristisch auf der sicheren Seite sind. Wir haben einen Vater angerufen, der Anwalt ist, doch der konnte uns auch nicht helfen – er sagt, müssen bleiben.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nach einer Weile gesellen sich Klaus Schellhaas und eine Kollegin zu den Schülern. Sie rauchen und diskutieren mit ihnen und hören sich an, was das Problem ist. Die Schüler wirken besänftigt. Vielleicht ging es ihnen weniger um schlechte Musik und mehr darum, ernst genommen, gefragt zu werden.

Schellhaas: „Manchmal muss man sich als Lehrer erklären. Wir dachten, es sei eine gute Idee, in den Club zu gehen, und da lagen wir falsch. Das habe ich den Schülern auch gesagt. Außerdem: Es gibt immer Dinge, die einem keinen Spaß machen, die man dann aber trotzdem ertragen muss. Mir fiel das hier auch nicht leicht.“



Donnerstagmittag, Berlin-Hohenschönhausen. Nachdem die Gruppe das Museum in der ehemaligen Stasi-Zentrale besucht hat, führt ein Zeitzeuge sie nun durch die Gedenkstätte des früheren Untersuchungsgefängnisses der Staatssicherheit in Hohenschönhausen. Geschichtsunterricht aus erster Hand.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Till: „Er saß selbst hier ein, weil er auf der Flucht aus der DDR gefasst wurde. Er hat uns alles erklärt: wie es sich angefühlt hat, in einem Stasi-Knast zu sitzen, und mit welchen Techniken sie ihm die richtigen Antworten entlocken wollten. Besonders traurig fand ich, dass er sich mit der Zeit sogar ein wenig mit seinem Vernehmer angefreundet hat, weil er sonst niemanden zum Reden hatte.“

Emily: „Wir sind auch in die Zellen im Keller gegangen. Die Häftlinge haben ihn U-Boot genannt: kein Licht und enge Räume, in denen es dröhnt wie in einem Maschinenraum. Ich habe noch nie ein Gefängnis von innen gesehen. Als ich im U-Boot stand, musste ich mir vorstellen, wie schrecklich es wäre, bleiben zu müssen.“ 

Der letzte Abend in Berlin. In einer Bar haben die Schüler auf ihren Abschied angestoßen und Burger gegessen. Nur mit Verspätung schaffen sie es ins Hotel, nach 23 Uhr also. Ein Unwetter hat die Rückfahrt verzögert, Handyfotos, die sie Klaus Schellhaas geschickt haben, belegen das. „Ihr seid ja ein paar Weicheier, dass euch das bisschen Regen stoppt“, sagt Schellhaas zu den tropfenden Schülern. Dass sie nicht sofort in ihren Zimmern verschwinden, bemängelt er dafür heute nicht. Noch eine Weile sitzen die Schüler im Hotelflur. Aus den Zimmern, deren Böden mit Sneakern, leeren Wasserflaschen und Socken bedeckt sind, kommt leise Musik, als die verworfenen Fluchtpläne wieder auf den Tisch kommen und konkreter werden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Simon (Name von der Redaktion geändert): „So gegen 2 Uhr sind wir aus dem Haupteingang spaziert und haben uns in den erstbesten Nachtbus gesetzt. Wir haben versucht, in einen Club zu kommen, aber der war zu teuer, und sie haben die Ausweise kontrolliert. Stattdessen sind wir in einer Bar gelandet. Ein Typ kam an unseren Tisch und hat gelallt, dass wir uns gehen lassen sollen. Da sind wir lieber gegangen. Wir haben noch einen Döner auf der Warschauer Brücke gegessen, um 5 Uhr waren wir im Hotel. Berlins Nachtleben ist cool, aber ich glaube, es ist cooler, wenn man 18 ist.“

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Illustration: Julia Schubert




Freitagmorgen. Als die Schüler ihre Hotelzimmer räumen, sind die Augen noch mal kleiner als am Vortag. Die Bootsfahrt um die Museumsinsel erleben einige nur ein paar Minuten lang im Wachzustand. Dann gibt die Box, aus der vorher die Witze des Kapitäns schepperten, ihren Geist auf. Jetzt gibt es nichts mehr, was die Schüler am Einschlafen hindert. Auf die Reling gestützt, döst auch Flo – zwei Stunden bevor er seinen Rollkoffer in den Zug nach Stuttgart wuchten wird, dem Ende der Berlin-Fahrt entgegen.

Till: „Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich ganz froh, dass wir jetzt gleich zurückfahren. In Berlin haben wir schon anders gelebt als zu Hause. Immer hatten wir Programm, nie konnten wir ausschlafen. Ich freue mich auf mein gemütliches Bett und auf die Freiheit, es zu nutzen, wann ich will: 23 Uhr, ich bitte dich. Mich hat die Fahrt trotzdem vorangebracht: Ich habe noch mehr Lust bekommen, nach dem Abi nach Berlin zu ziehen und hier Design zu studieren.“

Schellhaas:  „Ich bin hin- und hergerissen, wie ich die Fahrt bewerten soll. Ich hatte schon den Eindruck, dass die Atmosphäre gut war. Aber das, was ich so ein richtiges Studienfahrt-Feeling nenne, das ist irgendwie nicht aufgekommen. Die Schüler haben sich in kleine Grüppchen aufgeteilt, mit der Gemeinschaft war es schnell vorbei. Der Hauptgrund, warum ich Klassenfahrten mache, ist, dass ich die Schüler dabei von einer anderen Seite kennenlerne: als Privatmenschen. Das ist auch für die Zukunft wichtig, wir haben ja noch ein Jahr bis zum Abi. Ich sage es immer so: Mit wem ich auf Studienfahrt ein Bier getrunken oder eine Zigarette geraucht habe, der pinkelt mir nicht mehr ans Bein. Inwiefern das dieses Mal geklappt hat, wird sich wohl erst in Stuttgart zeigen.“ 




Text: david-schelp - Fotos: Fabian Zapatka

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