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Das Gute, das Gute und nur das Gute

Foto: privat; Bearbeitung: jetzt

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Als ich das Dokument öffne, um die ersten Wörter dieses Textes zu tippen, stürzt mein Laptop ab. Der zweite Versuch. Der dritte. Auch der vierte und der fünfte Versuch werden von Zwischenfällen sabotiert.

Seit ich in der Nacht das Yesflix-Abonnement beendet habe, ist der Computer von allen guten Geistern verlassen. Das klingt so realistisch wie ein sprechender, brennender Dornbusch, aber es passiert tatsächlich. Sobald ich einen Buchstaben tippe, löscht er sich. Das Dokument zittert, als sei das Programm von einem Dämon besessen. Würde über mir nun auch noch die Glühbirne explodieren, ich würde auf die Knie fallen, um das Vaterunser zu beten.

Mehrere Tage mit dem Streamingdienst Yesflix, dem Video-On-Demand-Portal des christlichen Medienunternehmens BibelTV, gehen auch an einem Agnostiker wie mir nicht spurlos vorbei. Ich sah Spenderherzen vom Himmel fallen und Stumme singen wie Mariah Carey. Der Schluss, mein Laptop könnte ein Akkuproblem haben und nicht vom Allmächtigen persönlich in die Knie gezwungen worden sein, fällt da nicht leicht.

„Das Gute sehen“, verspricht die Plattform mit ihrem Slogan

Bei Yesflix bestimmen Zeichen und Wunder unsere kleinen Leben, „wertkonservative, gewaltfreie Unterhaltung“ nennen das die Macher*innen. „Das Gute sehen“, das verspricht die Plattform mit ihrem Slogan und bietet eine Schneekugelwelt aus Bibelverfilmungen, Familienkomödien, Serien, Dokumentationen und Filmen, in denen Gott wie ein gutmütiger Modelleisenbahnbauer von oben eingreift, falls wir Menschlein unten auf der Erde zu blind sind, sein gutes Werk zu erkennen. Eine Welt also, in der es nicht undenkbar ist, dass Gott meinen Laptop zu sich holt, weil ich den Selbstversuch schon nach drei statt wie geplant sieben Tagen abbreche. Aber von vorne:

Tag 1

Weil ich Netflix überdrüssig bin, habe ich beschlossen, Yesflix in mein Leben zu lassen. Vom Home-Office-Mief erschöpft, suche ich Ablenkung von den Verdopplungszahlen, Infektionszahlen, R-Zahlen, Totenzahlen. Es heißt, dass Menschen sich in Krisen der Religion zuwenden. Vielleicht kann der Streamingdienst des Herrn – wenn nicht die große Offenbarung – mir zumindest vorübergehend ein gutes Gefühl geben? Mich aus den Untiefen der Sofaritzen auferstehen lassen? Mir eine Arche in der Sintflut der Langeweile sein? Seit meiner Konfirmation, die ich eventuell auch aus niederen, finanziellen Interessen über mich ergehen ließ, habe ich Kirchen gemieden.

Die ersten Sekunden meines ersten Yesflix-Films triggern jede negative Erfahrung, die ich mit Gott und seinen irdischen Vertreter*innen gemacht habe. „Wenn die Gerechten schreien, so hört der HERR und errettet sie aus all ihrer Not!“, so dröhnt es aus meinem Fernseher. Schwulenwitze, Bilder von strengen Müttern und Gemeindehäusern in der schwäbischen Provinz arbeiten sich in mir nach oben – dazu das Gefühl der Ernsthaftigkeit, die in jedem Gesichtszug zu liegen hatte und alle Leichtigkeit mit gottesfürchtiger Arroganz verurteilte.

„A Question of Faith“ ist ein christlicher Film, wie ich mir christliche Filme vorgestellt habe. Die Story eines amerikanischen Vorstadt-Pastors, der seinen Sohn bei einem Autounfall verliert, funktioniert wie ein alttestamentarisches Gleichnis: Ein Mann Gottes muss eine Prüfung des Glaubens bestehen. Seine Familie überwindet ihre Wut und findet zu einem festeren Vertrauen in Gott. Trotz der Holzhammer-Moral rührt es mich, als das Herz des totgefahrenen Jungen ein Mädchen mit Herzfehler am Leben hält. Ich muss an meine Eltern denken, die zur Risikogruppe gehören, und an jenseitshelle Intensivstationen. In diesem Moment beneide ich Menschen, die sich gewiss sind, ihre Eltern im Himmel wiederzusehen.

Eine als Investigativ-Story getarnte Propaganda-Show, die christliche Pseudo-Wissenschaft zu Tatsachen hochschwatzt

Einen Anruf in der Heimat später ist die erste emotionale Krise des Yesflix-Marathons überwunden. Alles gut. Alle gesund. Zweite Runde. Der Film „Der Fall Jesus“ lässt sich kurz und knapp als Heldenreise in den Unfug beschreiben. Ein atheistischer Journalist versucht, seine christliche Frau zu überzeugen, dass ihr Superhero Jesus nie wiederauferstanden ist. Auf seiner Spurensuche findet er das Gegenteil heraus und bekennt sich zu „seinem Erlöser“. Das Biopic über den Journalisten Lee Strobel, der tatsächlich vom Atheisten zum Verteidiger des Glaubens wurde, soll ganz objektiv und wissenschaftlich belegen, dass Gott existiert. Eine als Investigativ-Story getarnte Propaganda-Show, die Fake News zu Journalismus und christliche Pseudo-Wissenschaft zu Tatsachen hochschwatzt. Mein Wut-Level: der warmgebrüllte Halt-Stopp-Mann aus „Frauentausch“.

Tag 2

Neuer Tag, neue Happy Ends. In „Werden wir uns finden?“ liebt eine Amisch-Frau einen Amisch-Mann, quasi Rosamunde Pilcher ohne Strom und fließend Wasser. Als die beiden gemeinsam mit einer Schar Waisenkinder eine Scheune bauen, erkennen sie, dass sie füreinander bestimmt sind. Der Optimismus in ihren Blicken, die Gewissheit, mit Gottes Hilfe wird das schon, macht mich kurz neidisch. Wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir sogar, die Welt manchmal auch so sehen zu können. Beten und arbeiten und wissen, dass es hinhaut, wenn der da oben will. Ob ich selbst offener sein sollte? Bevor ich aber ernste Konsequenzen für mein Leben ziehen kann, beginnt der Amisch-Mann Akustikgitarre zu spielen. Natürlich verfällt sie ihm. Natürlich heiraten sie. Kein glückliches Leben auf Gottes schöner Erde ohne Schleier, Torte, Ringe und „bis dass der Tod euch scheidet“.

Doch dann rettet ausgerechnet Davie Selke meinen Abend. In der Doku-Sektion von Yesflix gibt es Filme über Tiere, Meere und eine über den Fußball-Profi des SV Werder Bremen. Der Gedanke, auf dem Feld vor Tausenden Zuschauer*innen nicht allein zu sein, erzählt er demütig, helfe ihm. Von Jesus geliebt zu werden, auch wenn man Fehler macht, tue gut. Diesen Leistungsdruck – überlege ich in der Jogginghose von letzter Woche – würde ich nicht aushalten. Vielleicht ist die Frage, ob Gott existiert, also nicht die entscheidende. Wenn jede*r sein Glück finden soll, warum nicht auch ein Fußballer in der Zuneigung eines Gottes, der vielleicht in sieben Tagen einen bewohnten Planeten aus dem Ärmel geschüttelt hat? Egal, ob dieser Gott unsichtbar oder imaginär ist?

Im 14. Yesflix-Film, den ich sehe, gibt es die elfte heterosexuelle Hochzeit. Keine queere Hauptfigur, vierzehn Happy Ends

Eine Erkenntnis, mit der ich es für diesen Abend hätte gut sein lassen sollen. In der „Highschool Musical“-Adaption „Sunday School Musical“ bringt ein Jungschar-Justin-Timberlake Karens und Donalds im Namen des Herrn das Rappen bei: „Yo!“ Wäre ich nach Selke doch bloß ins Bett gegangen.

Tag 3

In der Eröffnungsszene von „The Other Side of Heaven“ entdecke ich die Hollywoodschauspielerin Anne Hathaway – und bin sofort euphorisch. Da sie mit ihrer Rollenauswahl meistens Geschmack beweist, erwarte ich Großes! Die folgenden Minuten zeigen leider, dass auch Anne Hathaway daneben liegen kann. Die Geschichte eines Pfarrers, der als Missionar auf eine Südseeinsel versetzt wird, lässt sich nur als Parabel weißer Überheblichkeit lesen: Weißer Mann bringt Schwarzen Wilden die Zivilisation. Als der Pastor am Ende auch noch Anne Hathaway heiratet, muss ich mich zurückhalten, nicht den Fernseher anzuschreien. Es ist der 14. Yesflix-Film, den ich sehe, die elfte heterosexuelle Hochzeit. Keine queere Hauptfigur, vierzehn Happy Ends. Natürlich ist auch Hollywood in dieser Hinsicht nicht perfekt, aber das ist absurd. Yesflix erfindet sich eine erzkonservative, aber so „glückliche“ Welt ohne Schwule, Lesben oder trans Personen.

Schnell zurück zu den Dokumentationen. Vielleicht kann „Mittelmeer Träume – die schönsten Landschaften aus der Vogelperspektive“ helfen, meine Enttäuschung zu vergessen. Tatsächlich, es klappt. Der Helikopter fliegt über Mallorca, türkisblaues Meer, eine sonore Erzählerstimme. Mein Körper entkrampft sich. Die Wellen wogen hin und her und in mir wird es warm und wattig. Als ich wieder aufwache, kreist der Hubschrauber nicht mehr über Mallorca, sondern über Lampedusa, einem „Paradies auf Erden“. In der Dokumentation von 2010 berichtet der Erzähler von einer „Flut an Exilsuchenden“, die aus Afrika hierher kämen. Von den menschenunwürdigen Zuständen in dem damaligen Auffanglager auf Lampedusa berichtet er nicht. Von den geflüchteten Menschen, die auf dem Weg hierher ertrunken sind, sowieso nicht. Schnitt, weiter zur Insel der Schönen und Reichen: Malta.

Da beschließe ich, den Selbstversuch abzubrechen. Eine Doku, die Lampedusa zwischen Ballermann und Steueroase abhandelt, die die Schrecken ausblendet, fühlt sich falsch an. Klar, ich Sofa-Gutmensch bin auch zu feige, um mich in der Seenotrettung zu engagieren, aber diesen Zynismus ertrage ich nicht. Nur das „Gute“ in der Welt sehen zu dürfen, ist ein Privileg von denen, die das Schlechte nicht sehen müssen. Ein Streaming-Dienst, der nur Good News und Happy Ends im Angebot hat, mag manchmal guttun, führt mich aber nicht zurück zu Gott.

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