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Kommen spirituelle Menschen besser durch Krisen?

Hilft Glaube, durch Krisen zu kommen?
Illustration: FDE

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Impfungen, Schnelltests, AHA-Regeln – während diese notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie im Fokus stehen, klagen immer mehr Menschen über psychische Beschwerden: Im ersten Lockdown im vergangenen Jahr nahmen Symptome von Angst

und Depressionen teils deutlich zu, so steht es in der NAKO Gesundheitsstudie. Besonders junge Menschen leiden unter den Einschränkungen im Alltag. Worin finden wir Halt und Orientierung, wenn reguläre Einkommen, Berührungen und Nähe

wegbrechen?

Isabelle Noth ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern. In der Religionspsychologie geht es darum, das religiöse Erleben und Verhalten der Menschen zu verstehen. Das Querschnittsfach beschäftigt sich sowohl mit den Nutzen als auch mit den Risiken bestimmter religiöser Praktiken. Im Interview verrät Noth, warum Glaube effektiv ist, was ihn von Ideologie unterscheidet – und wieso er uns auch auf uns selbst zurückwirft.

jetzt: Welche Rolle spielt Glaube für Sie persönlich in Ihrem Leben – wie hilft er Ihnen?

Isabelle Noth: Ich bin auch als Theologieprofessorin grundsätzlich einmal Christin und reformierte Pfarrerin, das heißt, Glaube ist für mich sowohl lebenspraktisch als auch theoretisch-berufsbezogen Fundament meiner Existenz. Für mich hat der Glaube im Sinne eines Vertrauen-Dürfens und einer Lebensorientierung gerade auch in dieser Zeit eine stark stützende Funktion. Er hilft mir, viele Dinge zu relativieren und mich immer wieder neu auszurichten, indem ich frage: „Was ist wichtig und worauf kommt es jetzt drauf an?“

Kommen religiöse oder spirituelle Menschen besser durch Krisen als Menschen, die sich keiner Glaubensrichtung zugehörig fühlen?

Es gibt eine Vielzahl empirischer Studien, die genau dies belegen. Es ist demnach so, dass religiös und spirituell aktive Menschen im Durchschnitt offensichtlich resilienter, also widerstandsfähiger, sind und über bessere Bewältigungsstrategien verfügen, um mit kritischen Lebensereignissen zurechtzukommen.

Woran liegt das?

Es hat unter anderem mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen zu tun. Dazu zählt zum Beispiel das Bedürfnis nach Bindung. Religiös-spirituelle Gruppierungen ermöglichen Menschen, Bindungen einzugehen, in ein Beziehungsnetz zu treten und sich dazugehörig zu

fühlen. Der Sonntagsgottesdienst zum Beispiel ist für viele nach wie vor ein Treffpunkt, um nicht alleine, sondern eingebettet zu sein in eine Gemeinschaft. Ein weiteres Grundbedürfnis ist das nach Orientierung. Menschen wollen sich einen Reim machen auf das, was sie erleben, auf das, was sie erleiden, und Religionen bieten hierzu Verstehensmöglichkeiten an, also wie jemand das Erlebte interpretieren kann.

„Glaube will ermöglichen, dass wir Angst gerade nicht kompensieren müssen“

Können Sie das genauer ausführen?

Nehmen wir ein Beispiel: Eine Person leidet zurzeit, weil sie nicht ins Büro gehen kann, sie hockt daheim und fühlt sich einsam. Die Situation kann als sehr kränkend erlebt werden. Wenn diese Person Zugang zu einer lebendigen Glaubenspraxis hat, also eine lebensfrohe und menschen- und tierfreundliche Spiritualität pflegt, vielleicht betet und gewisse Rituale kennt, biblische Geschichten liest und sie auf sich wirken lässt, dann fördert das ihr Selbstwertempfinden. Wenn sie weiß, dass sie geliebt und hier und jetzt gebraucht wird, dann stärkt das ihr positives Grundgefühl.

Mit Angstkompensation hat Glaube nichts zu tun?

Glaube will genau das Gegenteil ermöglichen, nämlich dass wir Angst gerade nicht kompensieren müssen. Denn Angst darf sein, sie gehört zum Leben, sie hat eine Schutzfunktion. Aber wir dürfen die Angst vertrauensvoll relativieren, indem wir daran glauben, dass da etwas ist, das größer als unsere Angst ist. Glaube möchte Verständnis

wecken für unsere Ängste und helfen, sie auf ein tragbares Maß zu reduzieren.

Macht es überhaupt einen Unterschied, woran man glaubt – einen Gott, Esoterik oder schlicht an gesellschaftliche Werte?

Ja, das macht einen Unterschied, wobei natürlich jeweils geklärt werden muss, was die jeweilige Person mit Gottesglaube meint, was sie unter Esoterik versteht oder an welche Werte sie denkt. Beim Glauben ist es von zentraler Bedeutung, welches Gottesbild ich habe, weil es Auswirkungen auf mein Selbstbild hat. Glaube ich an einen patriarchalen und strafenden Gott, dann fühle ich mich klein, kontrolliert und bin voller Angst. Glaube ich hingegen an ein gütiges Gegenüber, darf ich durchatmen und mich frei fühlen. Und es ist schon noch etwas anderes, wenn man sich in eine weltweite Tradition wie das Christentum hineinstellt und sich mit der Heiligen Schrift und Glaubensdokumenten auseinandersetzt, als einer spirituellen Gruppe beizutreten, die noch kaum eine Geschichte hat. Doch kein Mensch muss glauben, es gibt zahlreiche Menschen, die wunderbar glücklich sind ohne eine religiöse Zugehörigkeit. Das A und O des Glaubens ist Freiheit.

„Alles, was benutzt wird, um Menschen kleinzuhalten, ist bedenklich“

Apropos Freiheit: Wann wird Glaube Ihrer Ansicht nach zu einem Problem für unser Miteinander und uns selbst?

In dem Moment, wo Menschen anfangen, anderen einen bestimmten Glauben zu diktieren – das ist kein Glaube, das ist Ideologie. Glaube heißt Vertrauen, Liebe. Wir müssen Wege finden, wie wir miteinander auskommen, auch wenn wir unterschiedliche Ansichten oder Vorstellungen vom Leben haben. Dass ich gewisse Dinge aushalte, wo die andere Person Dinge anders macht oder sieht als ich zum Beispiel. Umgekehrt erwarte ich dasselbe aber natürlich auch von ihr. Und Menschen, die fundamentalistisch oder moralisch eng aufgewachsen sind, zum Beispiel mit religiösen Inhalten wie „Gott will, dass du das und das machst und wenn du da nicht gehorchst, dann kommst du in die Hölle“, das ist schrecklich, damit kann man Menschen kaputtmachen. Das sind tiefe Schäden, und da braucht es sehr viel therapeutisches Aufarbeiten, damit diese Menschen wieder freier werden.

Haben die katholische und auch die evangelische Kirche nicht jahrelang missioniert und tun dies bis heute?

Ja. Wobei ich heute nicht mit früher vergleichen könnte, da sich inzwischen eine ganz andere interkulturelle und postkoloniale Sensibilität ausgebildet hat. Mission wird heute grundsätzlich nicht mehr von den Großkirchen, sondern vielmehr von Freikirchen betrieben. Alles, was benutzt wird, um Menschen kleinzuhalten, um sie zu ängstigen und ihnen zu schaden, ist bedenklich, das muss man angehen und Aufklärung betreiben.

Dazu gehören dann teilweise auch vermeintlich richtige Anleitungen für Glückseligkeit. Oder teure Energieübertragungen.

Es nützt nichts, darauf hinzuweisen, dass in diesem Bereich aus wissenschaftlicher Sicht viel Humbug geschieht, denn Menschen, die davon Gebrauch machen, haben ja ein ernstes Leiden oder eine tiefe Sehnsucht. Dahinter stehen echte Bedürfnisse, Wünsche und Nöte.

Und wir wissen, wie stark eine positive Erwartungshaltung wirken kann.

Dennoch wird das zugrundeliegende Problem so nicht gelöst. Die Frage ist, ob es gelingt, die Beweggründe anders aufzufangen, ohne den Menschen Geld abzuknöpfen oder ihnen falsche Hoffnungen

zu machen.

Ein Großteil der Bevölkerung hierzulande, das hat eine Eurobarometer-Umfrage im Dezember 2018 ergeben, hält die Existenz Gottes für ausgeschlossen oder nicht bewiesen. Eine andere Studie zeigt, dass die Mehrheit der Katholik*innen und Protestant*innen in Wirklichkeit ein selbstbestimmtes Leben führt, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen anstatt auf Religion und Obrigkeitsglaube basiert.

Dass Gott nicht bewiesen werden kann, zählt zum theologischen Grundwissen und ist jedem einigermaßen vernünftigen Menschen heute einsichtig. Das heißt aber nicht, dass es Gott – was auch immer die einzelne Person sich darunter vorstellen mag – nicht gibt. Als Protestantin sage ich ganz klar: Ein reflektierter Glaube ist ein selbstständiger Glaube und der basiert selbstverständlich auch auf persönlichen Wertvorstellungen; ich würde hier nie einen Gegensatz aufstellen wollen. Ich hätte einfach das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass unsere persönlichen Wertvorstellungen häufig auch zutiefst von jüdischem und christlichem Gedankengut geprägt sind. Und die Auseinandersetzung mit sich selbst, auch der Zweifel, der zum Glauben gehört, der Perspektivwechsel, den ja alle Religionen propagieren – Dinge nochmals neu zu bewerten, anders anzuschauen – das sind wichtige Impulse in schwierigen Zeiten. Impulse, die motivieren, selber aufzustehen und zu schauen, was geschieht, wenn ich auch mal rückwärts oder seitwärts laufe oder mich sogar traue, befreit zu tanzen.

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