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Karma: Was die Religionswissenschaft dazu sagt und warum es keine Karma-Konten gibt
Als Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro vor ein paar Monaten positiv auf das Corona-Virus getestet wurden, drehte die Internetgemeinde vor Schadenfreude durch: Das Karma schlage zurück – das oder Ähnliches schrieben viele Nutzer*innen in sozialen Netzwerken. Alle drei Staatsoberhäupter waren, zumindest bis dahin, mit einer eher laxen Corona-Politik aufgefallen.
Auch auf Plattformen wie Jodel finden sich immer wieder Geschichten voll rachsüchtiger Genugtuung, etwa vom Exfreund, der einst die Jodlerin betrog und nun von seiner neuen Flamme hintergangen wurde. Viele Menschen glauben, dass Karma für ausgleichende Gerechtigkeit sorge. Doch damit liegen sie komplett falsch. Sie verwechseln Karma mit Zufall – mit dem Begriff der buddhistischen und hinduistischen Tradition hat dieses Verständnis jedenfalls nichts tun.
Weltweit gehören rund eineinhalb Milliarden Menschen dem Hinduismus und dem Buddhismus an. In beiden Religionen spielt Karma eine ganz zentrale Rolle. Es wird durch das Denken und Handeln erzeugt und beeinflusst. Hier bedeutet der Begriff, dass jede Tat eine direkte oder indirekte Rückwirkung auf den Einzelnen hat. Von einer ausgleichenden Wirkung ist allerdings nicht die Rede. Eine höhere, strafende Instanz gibt es nicht.
„Viele Menschen glauben, man erhalte gutes Karma, wenn man Gutes tut, zum Beispiel freundlich und hilfsbereit ist. Aber Karma füllt kein Konto, für das man etwas geschenkt bekommt“, erklärt David Schneider. Der 69-Jährige lehrt tibetischen Buddhismus im Shambala Zentrum in Köln. Aus Sanskrit übersetzt bedeute Karma so viel wie Schöpfung, Ursache, Aktion. „Das Prinzip von Karma ist, dass jede Handlung zu Konsequenzen führt.“
Karma sei keine gottähnliche Kraft, sondern entstehe erst, wenn Menschen mit ihrer Umgebung sowie den Menschen um sie herum in Kontakt treten. Schneider vergleicht das mit den Wellen, die entstehen, nachdem man einen Stein ins Wasser geworfen hat.
„Ich schaffe Karma selbst. Zum Beispiel, sobald ich jemanden auf der Straße anspreche. Mit jeder Entscheidung, die ich treffe, beeinflusse ich unser gemeinsames Karma. Ob gutes oder schlechtes Karma entsteht, ist von meinem Denken, Reden und Tun abhängig“, so Schneider.
„Karma ist weder gut noch schlecht, sondern neutral. Und eigentlich ist es ein Problem: Im Buddhismus versucht man, aus einem Leben mit Karma auszubrechen, denn seine Gegenwart lenkt uns von unseren Zielen ab“, sagt Schneider. „Erst, wer kein Karma mehr erzeugt, kann zu vollkommener Klarheit und Erleuchtung gelangen.“ Dies sei bisher jedoch nur einem einzigen Menschen gelungen: Siddhartha Gautama, bekannt als der historische Buddha.
Wer an seinem Fahrrad einen platten Reifen entdeckt, wurde nicht dafür bestraft, am Vorabend nicht beim Abwasch geholfen zu haben
Im Hinduismus ist es ähnlich: Die Gläubigen versuchen, dem ewigen Kreis der Wiedergeburt zu entfliehen und so zu Moksha, zur Erlösung, zu gelangen. Genau wie im Buddhismus, wo versucht wird, das Nirwana zu erreichen, ist das erzeugte Karma entscheidend dafür, auf welcher Stufe jemand wiedergeboren wird. Das spätere Dasein erlebt die Auswirkungen der karmischen Handlungen des jetzigen Daseins.
Dies stellt jedoch keine Belohnung oder Strafe dar, denn anders als im Christentum oder im Islam lehren die ostasiatischen Religionen nicht das Prinzip von Schuld und Vergebung. Sie betrachten lediglich die Konsequenzen einer jeden Tat beziehungsweise im Buddhismus die Motive dahinter. Die Folgen sind genauso zufällig wie Glück oder Pech.
Wer an seinem Fahrrad morgens einen platten Reifen entdeckt, wurde nicht etwa dafür bestraft, am Vorabend nicht beim Abwasch geholfen zu haben – denn rein logisch betrachtet hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Der Grund für den platten Reifen rührt daher, auf dem Heimweg durch Glasscherben gefahren zu sein.
Ob gutes oder schlechtes Karma entsteht, hängt von der Motivation des oder der Handelnden ab: „Gutes Karma entsteht dann, wenn ich eine Entscheidung treffe, die mich meinem jeweiligen Ziel näher bringt. Wichtig ist, dass die Beweggründe dafür rein und ohne Eigennutz sind. Gutes Karma entstünde aber auch dann, wenn ich für dieses Ziel etwas täte, das viele Menschen schlecht finden.“
Zum Beispiel erzeuge das Töten eines Tieres nicht automatisch schlechtes Karma. Das tue es nur, wenn es aus egoistischen Motiven wie Mordlust geschieht. Tötet jemand ein Tier, um es von seinem Leiden zu erlösen, handelt er aus Mitgefühl und schafft mit seinen uneigennützigen Motiven gutes Karma – auch wenn andere Menschen ihn dafür verurteilen.
Trump, Bolsonaro und Johnson jedoch schufen schlechtes Karma, da sie aus Selbstbezogenheit darauf verzichteten, strikte Hygienemaßnahmen in ihren Ländern durchzusetzen – und infizierten sich in der Folge selbst mit dem Virus. Dies betrachten Buddhist*innen wie Schneider jedoch nicht als Bestrafung einer höheren Macht, sondern als Zusammenhang von Ursache und Wirkung – wer sich weigert, eine Maskenpflicht anzuordnen, kann eben auch selbst erkranken.
Darin eine Bestrafung durch eine höhere Macht zu sehen, ist ein Missverständnis der Popkultur. Eine Erklärung, wie es dazu kam, liefert Ulrich Harlass, Religionswissenschaftler an der Universität Bremen. Er wertet das Verständnis von Karma in der modernen Popkultur als geflügeltes Wort, das das Phänomen der scheinbar ausgleichenden Gerechtigkeit umschreibt. „Yoga wird heute auch als Sportart rezipiert, ist eigentlich aber eine von sechs indischen Philosophie-Schulen. Von den Leuten, die sich nur auf ihre Matte legen und schwitzen, sucht vermutlich kaum jemand nach Erlösung“, sagt Harlass.
„Der Buddhismus fand erst im 19. Jahrhundert den Weg nach Europa und wurde zudem durch eine Folie kolonialistischer Dominanz betrachtet. Einige Leute haben dann die eigenen aufklärerischen Ideale mit asiatischen Positionen verglichen und in ihnen vermeintlich wiedergefunden“, erklärt Harlass.
„Viele Leute glauben an eine Symmetrie im Leben und verwechseln Karma mit Schicksal“
Diese Ansichten seien in die moderne Esoterik eingeflossen. „Genau wie die Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert zunehmend in den Fokus der Gesellschaft rückte, versuchten Esoteriker, ebenfalls einen Beweis für ihre Überzeugungen zu erbringen.“ Der Mensch versuche, sein ungewisses und für ihn meist nicht zu beeinflussendes Schicksal zu erklären, und glaube deshalb an kosmische Mächte oder einen Gott, der ihn bestrafe. „Die Leute verknüpften die Verkettung von Ursache und Wirkung unter anderem mit Karma, um scheinbare Zusammenhänge zu untermauern.“
Das sieht auch David Schneider so: „Viele Leute glauben an eine Symmetrie im Leben und verwechseln Karma mit Schicksal. Das ist aber nichts als ein Aberglaube“, betont er. Es sei verständlich, nach Erklärungen zu suchen. „Warum muss ich leiden? Warum muss ich sterben? Das verstehen wir Menschen nicht. Aber Buddha stellt diese Fragen nicht: Er betrachtet das Jetzt. Für ihn ist entscheidend, was als nächstes zu tun ist.“
Genau wie Donald Trump, Jair Bolsonaro und Boris Johnson, die sich mit dem Corona-Virus infizierten, wurde auch der Exfreund, der einst die Jodlerin betrog und nun von seiner neuen Flamme hintergangen wurde, nicht vom Karma bestraft. Sie setzten durch ihre Gedanken und Handlungen lediglich eine Verkettung von Ereignissen in Gang, deren Wirkung irgendwann auf sie zurück fiel.