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Junge Mormonen auf Mission
Als Melinda ihren Kopf senkt, die Arme verschränkt und die Augen schließt, wird es still im Raum. Nur ihr Murmeln ist noch zu hören: „Danke himmlischer Vater, dass wir uns heute in deinem Haus versammeln dürfen.“ Die Gemeinde im Raum vor ihr lauscht, versunken in diesen kurzen Moment. „Amen“, flüstert Melinda, hebt den Kopf und blickt ihre Brüder und Schwestern an. Sie lächelt, als sie sich wieder zu ihnen setzt.
Jeden Sonntagvormittag kommt Melinda Dzierzon, 22, in den ersten Stock des Hauses nahe der Münchner Theresienwiese. Dann treffen sich die Mitglieder der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, im Volksmund eher bekannt als „Mormonen“, zum Gottesdienst. Frauen in langen Röcken und Männer in Anzügen und Krawatten. Eng umschlungene Paare, Familien mit Kindern und Spielzeugkisten. Sie sprechen Spanisch, Französisch, Deutsch und viel amerikanisches Englisch. Redner sitzen vorne erhöht wie im Gericht. Nach Melinda spricht der Gemeindepräsident von den vielen „Bekehrt-Getauften“ und darüber, wie man die Kirche auch weiterhin „nach vorne bringen“ könnte.
Mehr als 16 Millionen Mitglieder gibt es nach eigenen Angaben der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“ weltweit, rund 40.000 in Deutschland. Damit ist sie die größte Kirche des Mormonentums, zu dem sich noch verschiedene andere Glaubensgemeinschaften bekennen. Sie alle beziehen sich neben der Bibel auf das „Buch Mormon“, eine sogenannte „Neuoffenbarung“, die in den 1830er Jahren in den USA von Joseph Smith herausgegeben wurde und zur Gründung des Mormonentums führte. Die Mormonen verstehen sich selbst als christliche Religion, die Mitglieder leben nach sehr strengen Glaubensregeln.
Ein Jugendlicher im kurzärmeligen Hemd schlurft mit einem Tablett voller Plastikschnapsgläser durch die Reihen. Auch Raphael, zwei Reihen vor Melinda, nimmt einen Schluck, es ist natürlich nur Wasser – Alkohol und sogar Kaffee sind nicht erlaubt. Raphael Wojciechowski, 20, ist Missionar. In der Kirche nennt ihn jeder nur „Elder Wojciechowski“. Das steht auch auf dem schwarzen Namensschild auf seinem Jackett. „Elder“ ist der Titel alle männlicher Missionare, missionierende Frauen werden „Sister“ genannt.
Sechs Tage später, ein warmer Samstag im April. Um 12 Uhr startet Raphael seinen Streifzug durch die Sendlinger Straße. Mit dabei: Elijah aus Texas, genannt „Elder Johnson“. Elijah, 20, ist Raphaels Kollege, die beiden verbringen Tag und Nacht gemeinsam, wohnen und missionieren zusammen. Mit ihren weißen Hemden, den bunten Krawatten und den dunklen, zurückgegelten Haaren sehen sie aus wie Brüder. An den Fingern tragen sie Ringe auf denen in weißer Schrift „WdR“ steht: „Wähle das Rechte“.
Weltweit gibt es mehr als 67.000 freiwillige Missionare, die für zwei Jahre getrennt von Familie und Freunden unterwegs sind
„Sprechen Sie Deutsch?“, fragt Raphael zwei Männer mit Jeans und Sonnenbrille. Die beiden bleiben stehen. „Wir machen eine kurze Umfrage, sollte nur so zwei Minuten dauern“, erklärt er. Die Männer kommen aus Frankfurt, die Eintracht spielt heute beim FC Bayern München. „Sind die Menschen in Frankfurt gläubig?“, fragt Raphael. Naja, kommt drauf an, entgegnen die Frankfurter. Der Blick des einen driftet zur Würstchenbude ab, doch Raphael bleibt dran. „Seid ihr selbst gläubig?“ Wieder folgt eine halbherzige Antwort, die Männer haben kein Interesse und verschwinden Richtung U-Bahn. Raphael und Elijah ziehen weiter. Eine Frau mit einem Mädchen an der Hand, ein Mann mit Schnurrbart, ein Pärchen in Fanmontur, sie alle bleiben nicht mal stehen.
Raphael kennt das. In der Sendlinger Straße sind sie oft, hier ist viel los. Sie wollen über Gott sprechen, und die Menschen zur Kirche bringen. Weltweit gibt es laut eigener Angaben der Mormonen mehr als 67.000 freiwillige Missionare, sie sind für zwei Jahre unterwegs, getrennt von ihren Familien und Freunden. Die meisten sind wie Raphael sehr jung, Männer dürfen ab 18 auf Mission gehen, Frauen ab 19.
Raphael konnte sich selbst eigentlich nie vorstellen Elder zu werden, obwohl auch sein Vater schon missioniert hat. Aber als er sich in der Schule immer schwerer tat und nach der 11. Klasse mit Fachabitur abbrach, trieb es ihn doch auf Mission. Sein Gebiet aussuchen durfte er sich nicht, das darf niemand. Die Ältesten der jeweiligen Gemeinde entscheiden für die jungen Mitglieder. Bei Raphael hieß das Zielgebiet: „Alpenländische Kommission“. In den letzten 20 Monaten war er in einem kleinen Schweizer Dorf, in München, in Passau, in Wien und nun wieder München. Das Gebiet verlassen darf er nicht, auch nicht, um seine Familie und Freunde in seiner Heimat Dortmund zu sehen.
Melinda bereitet sich noch auf ihre Mission vor. Von Frauen wird das zwar weniger erwartet, aber Melinda wusste schon immer, dass sie mal „Sister Dzierzon“ sein will. Ihre Familie ist seit Generationen mormonisch, den Glauben in die Welt zu tragen, wurde Melinda in die Wiege gelegt. 18 Monate wird sie in Russland sein, ihr Gebiet reicht vom Schwarzen Meer bis weit nach Norden. Im Sommer geht es endlich los, bis dahin versucht Melinda so gut wie möglich Russisch zu lernen und kümmert sich als Lehrerin in der Frauenstunde um die Münchner Gemeinde.
Nach dem sonntäglichen Gottesdienst baut Melinda ihre Bluetooth-Lautsprecher im Erdgeschoss der Kirche auf. Dunkle Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht, um den Hals trägt sie eine Kette mit Notenschlüssel-Anhänger. Hinter ihr kleben ausgemalte Herz-Mandalas an der Wand, rund 30 Frauen sitzen in Stuhlreihen vor ihr. Eine Schwester spricht das Anfangsgebet, dann spielt Melinda auf ihrem Smartphone ein englisches Kirchenlied ab. Kurz wird über die Bedeutung des Lieds gesprochen. „Tue jeden Tag etwas Gutes“, ist die Message.
Auf Fahrten des Uni-Chors, in dem Melinda singt, wird sie schnell zur Außenseiterin
Melinda lässt die Frauen sprechen, gibt selbst nur Anregungen. Entspannt steht sie vor der Klasse, eine gute Vorbereitung auf ihre Zukunft, sie studiert Musik auf Lehramt. Die meisten Kommilitonen tolerieren, dass sie Mormonin ist. Dennoch hat sie zwei getrennte Freundeskreise, lebt in zwei Welten. „Man ist immer ein bisschen allein mit dem Glauben“, sagt Melinda. Glaube und Kirche sind eben nur für wenige Menschen Anfang 20 überhaupt Thema.
Auf Fahrten des Uni-Chors, in dem Melinda singt, wird sie deshalb schnell zur Außenseiterin. Sie trinkt wie alle Mormonen keinen Alkohol, raucht nicht, verzichtet auf Kaffee und Tee. Auf Wochenendfahrten der Kirche gibt es Partys, auf denen keiner trinkt, „das ist so unbeschwert, ausgelassen, einfach schön“, sagt sie. Und dann ist da noch das Keuschheitsgebot: Mormonen haben keinen Sex vor der Ehe. Den Versuchungen zu widerstehen, wird in der Gemeinde sehr ernst genommen. „Ich weiß, dass Gott das belohnt“, sagt Melinda.
Auf Mission sind die Regeln besonders streng und noch zahlreicher. Einmal die Woche darf Raphael E-Mails an Familie und Freunde schicken, darin erzählt er von seinem Leben auf Mission. An Feiertagen darf er skypen. Viel Zeit zum Vermissen bleibt aber sowieso nicht, die Elders haben einen streng getakteten Tagesablauf: 6:30 Uhr Aufstehen und Frühsport, 7:30 Frühstück, anschließend den Tag planen und Besuche bei Familien, die Mitglieder der Kirche sind. Der Tag geht bis 21 Uhr. Fest eingetragen ist täglich auch „Street“, das Missionieren auf der Straße.
Nach vier Abfuhren haben Raphael und Elijah endlich ein kleines Erfolgserlebnis in der Sendlinger Straße. Sie unterhalten sich mit einer jungen Inderin. Die Touristin hat gerade ihre Reise durch Europa gestartet. „Have you ever seen missionaries like us in your home country?“, fragt Raphael. Die Inderin verneint. Aber sie ist interessiert, diskutiert mit den beiden wie Gott auf ihr Leben Einfluss nimmt. Nach zehn Minuten streckt Raphael der Frau sein Smartphone entgegen. Sie tippt ihre Mailadresse ein und verabschiedet sich. Am Abend wird Raphael den Kontakt an das Missionsgebiet in der Nähe von Mumbai schicken. Die dortigen Missionare werden sich dann mit der Frau in Verbindung setzen und versuchen, sie weiter vom mormonischen Glauben zu überzeugen.
„Schämen die sich nicht?“, fragt ein älterer Mann im Vorbeigehen
Als die beiden Elders ihren Weg Richtung Marienplatz fortsetzen, murmelt ein älterer Mann halblaut im Vorbeigehen: „Schämen die sich nicht?“ Eine blonde Frau schaut ihnen nach und raunt in ihr Telefon „Da waren irgendso Christen gerade“. Auf Raphaels brauner Umhängetasche steht „Wir sind Jünger Jesu Christi“.
Zum Mittagessen sind die beiden Elders bei zwei Mitgliedern im Münchner Süden eingeladen. Larissa, 25, öffnet die Tür. Zwei Hunde wuseln um Raphaels Beine, als er sie umarmt. „Schön, dass ihr da seid. Das Essen ist fertig“, sagt Larissa. Ihr Ehemann James, 25, deckt gerade den Tisch und begrüßt sie auf Englisch. Er kommt wie Elijah aus den USA.
Es gibt eine Gemüsepfanne mit Reis. „Elder Wojciechowski, würdest du für uns beten“, bittet Larissa. Raphael verschränkt seine Arme, schließt die Augen und senkt seinen Kopf. „Danke, himmlischer Vater für das Essen auf dem Tisch, für die Sonne draußen, für diesen schönen Tag.“ Während des Essen erzählt Raphael, dass sie auf Larissas Bitte am Morgen bei drei Schwestern geklingelt haben, die schon länger nicht mehr in der Kirche waren. Zwei waren nicht zu Hause, und eine hatte kein Interesse an einem Gespräch. Die Elders werden dort noch einmal vorbeischauen müssen.
Eine große Familie, so sieht man sich bei den Mormonen gerne. In der Frauenstunde liest Melinda eine Schriftstelle aus dem Buch Mormon von ihrem Smartphone ab, die Rede ist von „Helfen mit Freude“. Zustimmendes Nicken. Gemeinschaft ist den Mormonen wichtig. Jeder kennt jeden, weiß, was bei den anderen los ist. Melinda schlägt den Frauen vor, Mitgliedern, die schon länger nicht mehr in der Kirche waren, eine Nachricht zu schicken. Man wisse ja nicht, was los sei. Neben freiwilligen Diensten geben sie alle auch Geld für die Gemeinschaft, für den Aufbau der Kirche. Zehn Prozent des Gehalts soll jedes Mitglied monatlich abgeben. Melinda zahlt als Studentin nicht nur zehn Prozent ihres Nebenjobs als Chorleiterin, sondern auch von ihrem BAföG. Weil es dann doch finanziell knapp wird, springt ihre Oma ein. „Ein Zeichen, dass Gott auf mich aufpasst“, sagt sie.
Nach seiner Zeit auf Mission, will Raphael wie viele Mormonen gerne für einige Wochen nach Utah reisen. Dort sind fast zwei Drittel der 3,1 Millionen Einwohner Mormonen. Der Himmel auf Erden für Menschen wie Raphael und Melinda, die in Deutschland einer kaum bekannten Minderheit angehören. Utah, wo sie niemand mit den Zeugen Jehovas oder den Amish People verwechselt, wo niemand denkt, dass die Mitglieder der Kirche Jesu Christi noch Vielweiberei betreiben. Utah, wo auf Partys fast keiner Alkohol trinkt und alle auf der Suche nach dem Partner für die Ewigkeit sind.
Russland, Melindas Missionsziel, gilt als eines der schwierigsten Gebiete
In Deutschland sind Melinda und Raphael auch in ihrer Partnerwahl einschränkt. Denn für beide kommt eigentlich nur ein Partner aus der Kirche in Frage. Sie träumen von der Tempel-Ehe, von der Siegelung, die Ehepartner und ihre zukünftigen Kinder für immer aneinander bindet, auch im Jenseits. Die größte Verheißung eines guten Mormonenlebens: bis in alle Ewigkeit als Familie bei Gott.
Hätte Melinda einen Freund, wäre sie auch schon bereit zu heiraten: „Ich wüsste keinen Grund, warum nicht“. Mit 22 eine Familie zu gründen, ist in der Kirche nicht ungewöhnlich. Am liebsten würde sie dann irgendwo auf dem Land wohnen, vielleicht in der Gegend nahe Rosenheim, aus der sie kommt. Solange aber noch kein passender Kandidat in Aussicht ist, dient sie ihrer Kirche eben als Lehrerin und Missionarin.
Wenn es um Gott, den Glauben, die Regeln der Kirche geht, kennt Melinda keine Zweifel, auch was ihr Missionsgebiet Russland angeht. Jeder in der Kirche weiß, dass es kaum ein schwierigeres Land für Missionare gibt. Sie dürfen dort keine Menschen auf der Straße ansprechen, außerdem ist die Gemeinde klein und die kulturelle Bereitschaft mit Fremden über Gott zu sprechen gering. Auch Melinda hat kurz gezögert, als sie den Brief mit ihrem Missionsgebiet öffnete. „Aber dann habe ich mich natürlich gefreut“, sagt sie, „schließlich gibt es in Russland noch viel zu tun.“ Gott passt auf sie auf, davon ist Melinda überzeugt. In anderer Hinsicht hat sie es dafür gut getroffen: Für ihr Missionarstraining darf sie ins „Missionary Training Center“ in Provo, Utah. Fünf Wochen Russisch lernen, die Schriften studieren und natürlich üben, Fremde vom eigenen Glauben zu überzeugen.
In ihrer Frauenstunde ist das Schlussgebet gesprochen. Auf dem Weg aus der Kirche hält eine Frau mit Lockenkopf Melinda auf: „Ich muss dich noch zu deinem tollen Missionsgebiet beglückwünschen!“, ruft sie ihr entgegen und drückt sie an sich. „Danke“, sagt Melinda und lacht , dann geht sie zu den anderen jungen Mitgliedern in die Sonne vor der Kirche. Sisters und Elders fragen sich, wie es geht. Raphael und Elijah haben nur kurz Zeit, die Mission wartet. Nicht mehr lange und Melinda darf auch das schwarze Namensschild auf ihrer linken Brust tragen.