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Interview: Was bedeutet die Pogromnacht für Juden?
Anm. d. Red.: Dieses Interview wurde das erste Mal am 9. November 2019 veröffentlicht. Wir haben es für dieses Jahr in Rücksprache mit der Interviewpartnerin aktualisiert.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten Nazis in Deutschland Synagogen nieder, zerstörten Geschäfte und ermordeten Menschen jüdischen Glaubens. Auch 2020 wurde in ganz Deutschland der Nacht gedacht, die als Auftakt für den größten Völkermord Europas gilt. Der 9. November ist bei Jüdinnen und Juden immer noch sehr präsent. Mascha Schmerling hat die Organisation rent a jew mitgegründet. Mittlerweile heißt die Organisation „Meet a Jew“ und ist ein Projekt des Zentralrats der Juden. Wir haben 2019 mit Mascha über die Organisation gesprochen, sie gefragt, für was der 9. November stehen sollte und wie es heute um den Antisemitismus in Deutschland bestellt ist.
jetzt: Mascha, wie präsent ist der 9. November im Leben junger Jüdinnen und Juden?
Mascha: Der 9. November ist ein besonderer Tag, ein Tag an dem wir gedenken, aber auch die Gegenwart reflektieren. Manche Menschen gehen zum Beispiel Stolpersteine putzen, es gibt in vielen Städten Lesungen, Ausstellungen oder Aktivismus im Netz. Ich muss aber sagen, dass das Thema Judenhass im Jüdisch-Sein immer mitschwingt, dafür brauchen wir keinen bestimmten Tag. Der 9. November sollte mehr sein als ein Gedenktag.
Was zum Beispiel?
Dieser Tag ist eine Erinnerung für unsere gesamte Gesellschaft, nicht nur für die Jüd*innen. Er zeigt, was Hass alles anrichten kann. Die Pogromnacht ist nicht plötzlich passiert. Das war ein schleichender Prozess von Tabubrüchen, Grenzüberschreitungen und Übergriffen auf das jüdische Leben. Und das sehen wir heute auch wieder, nicht nur bei Juden. Wir erleben Grenzüberschreitungen in der Sprache, in den Schulen, gegenüber LGBTQ-Angehörigen, Politikern oder Menschen anderer Hautfarbe. Ich finde es wichtig, dass wir an Tagen wie dem 9. November nicht nur an die Pogromnacht denken, sondern daran, dass wir jeden Tag einschreiten müssen, wenn jemand aufgrund eines Merkmals seiner oder ihrer Identität ausgegrenzt wird.
„Wir versuchen, dem Wort Jude ein Gesicht zu geben“
Der 9. November stand 2019 vor allem auch unter dem Eindruck des Attentates von Halle, oder?
Die jüdische Gemeinde war geschockt von Halle. Aber überrascht waren wir nicht. Es hat einen Grund, dass im ganzen Land seit Jahren jüdischen Einrichtungen geschützt werden müssen. Antisemitismus war nie weg. Er ist heute nur, auch durch Social Media, wieder viel sichtbarer. Trotzdem versuchen wir offen zu sein, weil Aufklärung uns Dialog ein wichtiger Teil der Lösung ist. Ich wünschte wir bräuchten diesen Schutz nicht und könnten unsere Türen für alle Menschen öffnen und jeden einladen, der Lust hat, mit uns Freitagabend Schabbat zu feiern.
Um solche Begegnungen zu schaffen wurde 2020 das Projekt „Meet a Jew“ gestartet. Was macht ihr genau?
Wir bringen jüdische und nicht-jüdische Menschen in Gesprächen zusammen. 300 jüdische Ehrenamtliche, verteilt über ganz Deutschland zeigen, dass es nicht „die Juden“ gibt. Das aktuelle jüdisches Leben ist sehr bunt und vielfältig. Wir sind in erster Linie Menschen, wir sind ein normaler Teil dieser Gesellschaft, deutsche Juden oder jüdische Deutsche. Ich persönlich möchte auch nicht auf meinen Glauben reduziert werden, ich bin viel mehr als ,nur‘ Jüdin. Deshalb gehen wir zum Beispiel in Schulen, Unis, interreligiöse Gruppen und Sportvereine und erzählen dort von uns. Wir reden nicht über das Judentum, sondern erzählen aus unserem persönlichen Alltag. Alle Fragen sind erlaubt.
Warum ist das so wichtig?
Wir wollen dem Wort Jude oder Jüdin ein Gesicht zu geben. Wir zeigen, dass wir ganz normale Menschen sind. Vielen ist nicht klar, dass man in Deutschland in den allermeisten Fällen nicht merken würde, wenn ein Jude neben einem in der Bahn sitzt. Viele haben immer noch ein abstraktes oder stereotypes Bild von Juden. Wenn wir in Schulen sind, dann bekommen wir als Feedback oft zu hören, dass die Schüler*innen erstaunt waren, wie normal wir sind. Das ist krass und deshalb so wichtig.
Woher kommt dieses, wie du es nennst, „abstrakte“ Bild, das junge Menschen von Jüdinnen und Juden haben?
Das Bild unserer Religion ist geprägt vom Holocaust. Die allermeisten hören zum ersten Mal vom Judentum im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg. Wir sind sehr wenige in Deutschland, um die 200 000 Menschen. Wir sind eine Minderheit, viele kennen einfach keine Juden persönlich. Das wollen wir mit Meet a Jew ändern.
„Hass ist ein menschlicher Reflex“
Du sprichst durch deinen Job mit sehr vielen Menschen über deine Religion. Wie hat sich der Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Jahren verändert?
Antisemitismus ist ein bisschen wie ein Chamäleon. Er passt sich seiner Umgebung an. Solche Dinge wie Rassenideologie haben wir, Gott sei Dank, überwunden. Heute zeigt sich Antisemitismus oft versteckt als Israelkritik oder in Form von Verschwörungsmythen rund um Corona, so passt er sich halt immer der Zeit an.
Gibt es heute mehr Antisemitismus als vor zehn Jahren?
Die Hemmschwelle ist auf jeden Fall gesunken. Hass kann heute über das Internet einfacher denn je geäußert werden, wir kriegen also viel mehr davon mit. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Mund aufmachen. Ich spreche nicht nur von Judenhass. Wenn die Juden nicht da wären, dann würde dieser Hass nicht verschwinden. Die Attentäter von Halle und Hanau hatten eine Ideologie in der Judenhass, Rassismus und Frauenfeindlichkeit eng miteinander verwoben waren. Hass ist ein menschlicher Reflex, eine einfache Lösung für komplizierte Probleme. Wir müssen deshalb verstehen, dass wir aufstehen und den Mund aufmachen müssen, wenn z.B. „Jude“ als Schimpfwort auf dem Fußballplatz benutzt wird.