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Warum wir mehr Tourismus in der eigenen Stadt machen sollten
Als ich als Kind einmal nach München fuhr, habe ich im Brockhaus unter „München“ nachgesehen. Das erste, was ich dort sah, war ein Foto vom Olympiapark. Der sah so nach Großstadt, Zukunft und riesigem Fantasiegarten aus, dass ich die Stadt gleich mochte. Und daran änderte sich auch nichts, als ich schließlich dort war. Gut, ich war erst neun und hatte keine Vergleichsmöglichkeiten – aber trotzdem ist der Blick eines Touristen auf eine Stadt einer der liebevollsten, die es gibt. Den habe ich auch heute noch, wenn ich eine fremde Stadt besuche. Als Touristin beobachte ich alles mit einem naivem Staunen. Ich habe nichts zu verlieren, ich fahre ja sowieso wieder weg. Und Menschen, die nichts zu verlieren haben, werden selten enttäuscht.
Ich möchte diesen ersten Blick auf meine eigene Stadt zurück. Seit acht Jahren lebe ich in München und einerseits kommt es mir vor, als würde ich jede Ecke kennen, andererseits ist diese Stadt für mich die schrecklich hübsche Kulisse meiner Alltagsplagen. Ich schätze, dass ich damit nicht allein bin und die meisten Menschen die Sehenswürdigkeiten vor ihrer Haustür niemals besucht haben. Das wird heute geändert: Ich mache Urlaub in der Stadt, in der ich lebe.
Erstmal recherchiere ich viele kleine und große Touristenattraktionen in München. So viele, dass sie drei Seiten in meinem Notizbuch füllen. Denn als Tourist muss man sich gut vorbereiten. Auf TripAdvisor stoße ich auf das angeblich beste Wirtshaus-Weißwurstfrühstück in der Gaststätte Großmarkthalle. Mit dem ist es bei mir wie beim Glockenspielanschauen: Eine Mischung aus Bayernklischee-Müdigkeit und Ich-könnt's- eh-jeden-Tag-machen-Gleichgültigkeit hat mich bisher davon abgehalten. Aber User „Thomas A“ aus München, ein echter „Local“ also, ist begeistert: „Selten bis einzigartig ist auch die Qualität und Zubereitung der Speisen. Die Wurst, respektive die Würstel sind alle aus eigener Herstellung und von herausragender Qualität. Eine Weißwurst, aus reinem Kalbsbrät, wo findet man das heutzutage denn noch in München.“
Ein Tourist steht früh auf, damit er was vom Tag hat, deshalb bin ich schon um halb neun am Freitagmorgen an der Gaststätte Großmarkthalle. Der Himmel ist stechend blau und die Luft riecht gleich so, wie sie nur riecht, wenn man auf Reisen ist. Für alle, die nicht wissen, wie das riecht: glasklar, leicht brausepulverhaft und entfernt nach frischem Brot.
Die Tür der Gaststätte Großmarkthalle geht auf und wer kommt raus? Dieter Reiter. Und ein schmaler, sekretärhaft aussehender Mann. Reiter zu dem Mann: „Na dann, machen wir es also wie besprochen.“ Münchnerischer kann mein Tag nicht losgehen. Drinnen sitzt dann gleich auch noch ein Frauenstammtisch, alle im Dirndl. Ich werde harsch auf Bairisch zurechtgegrüßt, nachdem ich neumodisch verzogen nicht gleich bei Eintritt gegrüßt habe. In der Ecke zwei Arbeiter, in einer anderen eine Gruppe junger Leute mit runden Brillen und feinen Wollpullovern. Ich bestelle Würste und ein Weißbier und zusammen mit dem Schwipps schießt mir ein kleiner Schmerz in die Brust, der ab jetzt nur immer größer wird. Sein Name lautet „Warum mache ich das hier nicht viel öfter?“.
Alles ist so viel, so neu, so kolossal bedeutsam. Ich habe es geschafft: Ich bin Touristin
Später ein Rundgang über den Großmarkt. Fast wie in Tokyo auf dem Fischmarkt mit all den Gabelstaplern und dem Durcheinander, denke ich angetrunken. Nur ohne Fisch und ohne Japaner, dafür mit Gemüse, Obst, Türken, Italienern, Polen und Grantlbayern. In einem offenen LKW leuchten in der Morgensonne rote Erdbeerkisten, daneben sitzt ein dicker Mann mit grüner Weste auf einem Plastiksack und grinst mich feist an. In den alten Jugendstilhallen ist es licht und betriebsam, ich möchte in die frischen Mangos beißen und noch ein zweites Mal frühstücken, auf den Imbiss-Bierbänken zwischen Kondensmilch und Zuckerdosen. An einer Wand hängt eine Reifegradtabelle für Bananen: grün, mehr grün als gelb, mehr gelb als grün, gelb mit grünen Spitzen, voll gelb. Es klingt den ganzen Tag noch in mir nach wie ein sinnloses Gedicht.
Ich muss stehenbleiben, denn die Reizüberflutung erzeugt einen Schwindel in mir. Alles ist so viel, alles ist so neu, alles ist so kolossal bedeutsam. Das ist der erste Blick! Das ist die Außeralltäglichkeit, die alles aufregend macht. Ich habe es geschafft: Ich bin Touristin.
Dann habe ich hier genug gesehen und fahr einfach wieder weg. Zum Marienplatz, aussteigen bei den orangefarbenen Kacheln. Wie schön ist das Leben als Touristin! Die Sonne scheint und niemand will was von mir. Ich fliege die Rolltreppen hoch, nichts ist anstrengend. Die Stadt ist mein Freizeitpark.
Jetzt ist das Glockenspiel an der Reihe. Ich bin noch nie bewusst auf dem Marienplatz stehen geblieben. Welcher Münchner macht das schon? Man ist doch auf dem Weg von Ich-muss-nur-schnell-noch nach Beinah-hätte-ich's-vergessen froh, wenn man es lebend von der Rosenstraße bis zum Marienhof schafft. Bloß irgendwie den Platz überqueren und nicht vom Menschenstrom zwischen Kaufingerstraße und Tal erfasst werden, der in meinem Kopf immer die Illustration des Wortes „Mainstream“ darstellt.
Aber jetzt stehe ich im Pulk, blicke hoch und werde gar nicht weggespült. Noch lärmt der Rapper von der Vegan-Demo über den Platz, aber demütig schweigt um Punkt elf Uhr auch er. Zuerst schlägt einmal dunkel und elf Mal hell die Rathausuhr. Neben mir erklärt ein Vater seiner Tochter das Glockenspiel. Sie raten, welcher Ritter gewinnen wird. Ritter? Ich sehe keine Ritter unter den bunten Figuren da oben und außerdem bewegt sich überhaupt nichts, obwohl das Glockenspiel schon seit gefühlten fünf Minuten läuft. Die Asiaten mit ihren Tablets vor mir müssen schon einen Armkrampf haben. Da beginnt es endlich, sich zu drehen. Die Figuren funkeln bunt und wie angeleckt in der Sonne. Wie groß sie sein müssen, mindestens Lebensgröße. Da kommen die Ritter und der eine sticht den anderen und der knickt nach hinten weg. Das Mädchen hat die Wette gewonnen, ihr Ritter hat gesiegt.
Ewiges Touristenschicksal: Was man sehen will, wird grad' saniert
Jetzt will ich auf den Alten Peter, denn da war ich auch noch nie drauf. Und jeder weiß: Es gibt in fremden Städten kaum etwas Besseres, als von sehr weit oben herunterzusehen und plötzlich das große Ganze zu verstehen. Aber: Der Turm ist geschlossen. Am Eingang hängt ein Zettel, die „Jubiläumsglocke“ wird saniert, bis Mitte April. Ewiges Touristenschicksal: Was man sehen will, wird grad' saniert. Ich sehe anderen Touristen dabei zu, wie sie enttäuscht das Schild lesen. Oder: Es versuchen, denn an einen englischen Text hat man seitens der Kirche nicht gedacht. Einigen muss ich es übersetzen.
Dann eben gleich Viktualienmarkt, der alte Touri-Magnet, und im Biergarten eine Radlermaß bestellen. Auf dem Markt kaufe ich oft Käse und Gemüse, aber in den Biergarten setze ich mich nie, weil Hypothese: Touristenfalle! Tatsächlich aber sitzt hier eine erstaunlich ausgewogene Mischung aus Einheimischen und Gästen. Und diese ausgewogene Mischung ist ja gerade so ein typisches Münchending: Man staunt jedes Jahr auf der Wiesn wieder drüber oder wenn man sich einmal in drei Jahren ins Hofbräuhaus verirrt.
Viele Menschen sind alleine hier, wie ich. Nicht wenige sind sehr alt und sehen aus, als wäre die Rente nicht grade hoch. Sie halten ihre Gesichter in die Sonne oder tauschen ein paar bairische Worte, die ich kaum verstehe. Andere sind in Grüppchen da und haben sich an den Ständen Picknick gekauft. Eine Gruppe Franzosen, die aussehen wie meine Freunde aus dem Frankreich-Austausch in der neunten Klasse, sitzen mit Baguette, Käse und zwei Flaschen Rotwein da. Niemand kommt, um sie zurecht zu weisen, dass man zwar Essen mitbringen darf, aber keine Getränke.
Nach der Maß laufe ich zwischen den Ständen. Wieso sitze ich nicht öfter mit meinen Freunden auf diesen kleinen sonnenwarmen Blechvorsprüngen der Marktständen oder lehne stundenlang am Lisl-Karlstadt-Brunnen und halte ab und zu meine Lippen unter den Trinkwasserstrahl? Weil ich natürlich denke, dass so etwas nur Leute machen, die keine Ahnung haben von München. Wer Ahnung hat, lebt in seiner „Hood“, kennt da die besten Bars und schönen Parks, meidet alles, was schon einmal als Empfehlung in irgendeinem Reiseführer abgedruckt war und aus Faulheit auch gleich jedes Stadtviertel, das weiter von der eigene Haustür weg ist als fünfzehn Minuten Fußweg. Hier merke ich, was für ein Unsinn das ist.
Stadtführungen macht man auch viel zu selten mit, wenn man mal wo wohnt
Ich kaufe eine saure Gurke, setze mich in einen Sonnenfleck und gehe meine Sehenswürdigkeiten-Liste durch: Hofbräuhaus, Residenz, Pinakotheken, das Stadtviertel mit dem hübschen Namen Glockenbach, Väterchen Timofej im Olympiapark, die Isarauen, natürlich, der Flaucher, das Müllersche Volksbad, der Botanische Garten, Schloss Nymphenburg, und lauter Geheimtipps: bestes und supergünstiges Frühstücksbuffet im Louis Hotel direkt am Viktualienmarkt, Dachterrasse der Deutschen Eiche, Flohmarkt am Olympiapark, bessere Crêpes als in Frankreich an der Hackerbrücke irgendwo beim Zirkus Krone. Und im Westend steht im Hinterhof eines Bürogebäudes eine Skulptur von Olafur Eliasson, eine endlose Treppe, die nur wieder dorthin führt, wo man sie bestiegen hat.
Ich weiß gar nicht, was ich als nächstes tun soll. Vielleicht muss ich die Heilige Munditia um Rat fragen, die steht auch auf der Liste und sie ist nah: Ihre Gebeine liegen in einem Glassarg in der St. Peter Kirche. Sie sieht in echt noch viel besser aus als auf allen Fotos. Ein in weiße Netzstrümpfe, Goldkordeln und bunten Diamantenschmuck gekleidetes Skelett. Aus glubschig-funkelnden Glasaugen glotzt es mich heiter und sehr irr an. Aber helfen kann sie mir auch nicht.
Ich beschließe, meine übervolle Liste vorerst zu vergessen und rufe die Mutter meines Freundes an, die als Stadtführerin in München arbeitet – denn Stadtführungen macht man auch viel zu selten mit, wenn man mal wo wohnt. Wir treffen uns vor dem jüdischen Museum und stehen vor der ewig verschlossenen und nur nach Anmeldung zu besichtigenden jüdischen Synagoge. Meine persönliche Stadtführerin erzählt mir unter anderem von dem unterirdischen Gang der Erinnerung, der von dem Gemeindehaus bis in die Synagoge führt. Oder davon, dass sich einer der Asambrüder in das Wohnhaus neben der Asamkirche ein rundes Fenster in sein Schlafzimmer hat bauen lassen, damit er vom Bett aus auf den Hochaltar blicken konnte. Während sie erzählt, staune ich darüber, was ein einziger Mensch alles über Stadtgeschichte und Architektur wissen kann.
Als unsere Beine müde werden, gehen wir in den Kabinettsgarten hinter der Oper. Am Tee- und Kaffeeautomaten des Spanischen Instituts gegenüber holen wir uns für 50 Cent einen übersüßten Früchtetee und setzen uns damit in die Sonne. Den Trick kennt auch eine müde Politesse, die mit einem Kaffeebecher neben uns Platz nimmt. Stadtführerinnen wissen eben, was Touristen mögen – Sehenswürdigkeiten, schon klar, aber vor allem auch die Illusion, am Alltag der Einheimischen teilzunehmen.
Ja, man kann in der eigenen Stadt Ferien machen. Wenn man nirgends hinmuss. Aber überall hindarf
Wir besichtigen ein pompöses altes Treppenhaus im Preysingpalais hinter der Feldherrenhalle und laufen durch den Hofgarten zum Hofbrunnwerk, das bis heute der Versorgung der Brunnen im Hofgarten dient. Es hält noch Winterpause. Wir sehen hinauf zum Dach der Residenz, auf dem sich König Ludwig einst einen Wintergarten mit Teich, Brücke, Boot, Schwänen, Wasserfall und künstlichem Mondlicht hat bauen lassen. Leider war dieser Teich so undicht, dass das Wasser durch die Gemäuer sickerte und den Bediensteten in die Wohnräume tröpfelte. Und zum Schluss der Englische Garten, der hat nie geschlossen, und er ist wunderschön.
Dort, zwischen den Bäumen und mit dem ersten Frühlingsgeruch in der Nase, denke ich: Ja, man kann in der eigenen Stadt Ferien machen. Wenn man nirgends hinmuss. Aber überall hindarf. Dann wird man einer von denen, die so schön dümmlich und immer auch leicht orientierungslos vor sich hingucken und sich dabei einfach nur wohlfühlen. Das ist die Freizeitformel, die Formel für den ersten Blick: nicht getrieben sein. Sehr oft innehalten. Und sehr, sehr langsam und unbekümmert gehen. Bis sich so ein leichter Auftrieb unter den Fußsohlen einstellt, der alles einfach und interessant macht.
Ich sehe ewig in den Wasserfall am Eisbach, der den Beginn des Schwabinger Bachs markiert. Und denke an alles gleichzeitig: an den baldigen Sommer, an Japan, an Mick Jagger, der hier letzten Sommer inkognito spazieren ging, und natürlich an den noch immer in meiner Brust wehenden Schmerz, dass ich viel zu wenig nutze von allem, das mir in dieser Stadt jeden Tag zu Füßen liegt. Mein Tag endet mit dem Vorsatz, den ersten Blick öfter einzunehmen. Jetzt kenne ich ja die Formel. Und es ist noch sehr viel übrig auf meiner Liste.