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Warum junge Menschen auswandern
Spießig, langweilig und ohne jede Herzlichkeit – lange Zeit hatte Deutschland unter jungen Menschen ein ziemlich schlechtes Image. Werte wie Ordnung, Pünktlichkeit und Sicherheit schreiben eben nicht gerade die Geschichten, mit denen man sich auf Partys eine Schar von Zuhörern sichert. Doch es scheint, als habe sich das in den vergangenen Jahren gewandelt. Statt „Ich glaube, ich wandere mal aus“ oder „typisch Deutschland“ hört man nun oft: „Wir können wirklich froh sein, hier zu leben.“
Ohne Frage, nicht nur angesichts der Krisen und Kriege auf der Welt können wir das. Ob bei der Bildung, der Beschäftigung oder der Lebenszufriedenheit – Deutschland liegt im internationalen Vergleich immer über dem Durchschnitt. Der deutsche Reisepass gehört nach wie vor zu den mächtigsten der Welt, kaum eine andere Nationalität eignet sich besser, um problemlos herumzureisen. Und auch im weltweiten Ranking zur Pressefreiheit 2018 schneidet Deutschland auf Platz 16 der insgesamt 180 Ländern sehr gut ab.
Wieso sollte jemand also Deutschland verlassen und ein Leben im Ausland vorziehen wollen? Darüber haben wir mit jungen Auswanderern aus fünf verschiedenen Ländern gesprochen. Sie haben uns auch verraten, was in der neuen Heimat wirklich besser läuft und was sie vermissen.
Lamis (31)
ist in Darmstadt geboren und 2015 nach Spanien ausgewandert. Von Party-Exzessen bis hin zum Lehrer-Dasein hat sie dort alles erlebt – und Deutschland auf eine ganz neue Weise schätzen gelernt.
„Die Idee, als Hippie ein Aussteigerleben mit viel Sonne, Strand und Meer zu führen, zog mich nach Spanien. Von Teneriffa ging ich weiter nach Ibiza – ein Ort, dem alle sechs Monate Leben eingehaucht und dann wieder entzogen wird. Bis zum Frühling glich die Insel dem Set von ‚The Walking Dead‘ – alles war wie ausgestorben.
An den Sommerabenden wurde überall gefeiert - manchmal habe ich mitgemacht, aber ich hielt nie lange durch. Ich war umgeben von Drogen, hart und weich, flüssig und pulvrig. Die Sonnenbrillenverkäufer hatten Kokain, Ketamin und Gras im Angebot, Diebstahl und Prostitution florierten. Ich habe die Lines selbst aber abgelehnt und fühlte mich ausgeschlossen. Überall waren Menschen, die es völlig übertrieben haben. Absurderweise war ich am Ende der Saison aber traurig, dass der ganze Irrsinn vorbei war.
Doch hinter dieser Partyfassade fand ich nicht viel. Mir wurde klar: Mein Hippieleben war nur eine Wolke aus Gras und Planlosigkeit. Deshalb bin ich vergangenen Sommer nach Barcelona umgezogen. Dort arbeite ich nun wieder als Sprachlehrerin und schreibe als freie Journalistin für eine deutsche Zeitung. Es macht mich stolz, dass ich mich beruflich weiterentwickelt habe – obwohl das eigentlich nie das Ziel war. Manchmal fehlt es mir aber, mich auf Deutsch zu unterhalten. In der Muttersprache ist man selbstbewusster, witziger und hat oft tiefergehende Gespräche.
Meine Einstellung zu Deutschland hat sich definitiv geändert: Ich habe sogar die strenge Bürokratie vermissen gelernt. Die Vorteile schätzt man wohl erst, wenn man sieht, wie es anderswo zugeht. Die Schulbildung in Deutschland ist beispielweise fantastisch, kostenlos und im Vergleich zu anderen Ländern auf hohem Niveau. Dafür gibt es in Spanien weniger festgefahrenen Strukturen, die aufhalten und frustrieren. Hier findet sich immer ein alternativer Weg – beruflich und privat. Außerdem gilt: weniger Stress, mehr Freude. Die Menschen sind viel entspannter. Autofahrer können für einen kurzen Plausch einfach anhalten, ohne damit ein Hupkonzert auszulösen. Deutschland ist und bleibt aber das sicherste Land, das ich mir vorstellen kann. Sollte das für mich jemals zur Priorität werden, werde ich zurückkommen.“
Kai (31)
ist in Berlin geboren und in Bayern aufgewachsen. 2016 ist er für seine Schweizer Freundin nach Lausanne ausgewandert und war von der Mentalität dort anfangs ziemlich überrascht.
„Ich habe Bénédicte auf einem Festival kennengelernt. Nach einem halben Jahr Fernbeziehung bin ich mit einem Basiskurs Französisch und meinem Koffer einfach ausgewandert. Die erste Zeit war schwieriger als erwartet, denn die Sprache war eine extreme Hürde. Beim Arztbesuch oder den ersten hundert Telefonaten bin ich wirklich an meine Grenzen gestoßen. Ich hatte schon einen Kleinkrieg mit einem Autohaus, bei dem der Angestellte am Ende meinte, ich spreche einfach zu schlecht Französisch. Das hat mich ziemlich enttäuscht, denn ich dachte zu diesem Zeitpunkt, mein Französisch wäre schon recht gut.
Obwohl die geografische Entfernung zu Deutschland nicht so groß ist, herrscht hier eine andere Mentalität: In der französischen Schweiz haben viele Menschen so eine ‚Fuck you-Attitüde‘. Ein Satz, der hier gern gesagt wird, bringt das gut auf den Punkt: ‚Démerdez-vous‘. Meine freie Übersetzung lautet: ‚Bring dich selbst aus der Scheiße raus‘. Wenn ein Problem auftaucht, wird hier oft achselzuckend ‚démerdez-vous‘ erwidert, selbst wenn du nicht schuld daran bist. Statt gemeinsam eine Lösung zu suchen, wird man sich hier oft selbst überlassen. Meine ‚Hau ruck, wir packen das‘–Einstellung teilt hier kaum jemand. Als Elektriker habe ich zwar schnell Arbeit gefunden, doch der raue Ton hier irritiert mich auch heute noch manchmal.
Es ist schwer, hier richtige Freundschaften zu knüpfen – das liegt zum einen sicher wieder an der Sprache, aber irgendwie ergeben sich solche Kontakte auch kaum. Nachdem das erste Abenteuergefühl verflogen ist, ist mir deshalb auch bewusst geworden, wie sehr mir meine Freunde und Familie fehlen. Trotz allem ist die Lebensqualität für mich hier aber höher. Die Schweiz ist zwar teurer, doch ich verdiene auch mehr. Außerdem habe ich den Genfer See und die Alpen vor der Haustüre – das perfekte Terrain für meine Hobbys Ski- oder Radfahren.“
Kristina (31)
ist ihrem Freund 2016 nach Kopenhagen gefolgt, um eine Fernbeziehung zu vermeiden. Dort arbeitet sie als Bloggerin und Journalistin und hat eine neue Art der Gemütlichkeit kennengelernt.
„Manchmal vergesse ich fast, dass ich gar nicht mehr in Deutschland bin: Aspekte wie Sicherheit, Frieden oder ein stabiles Sozialsystem, die ich an Deutschland schätze, habe ich hier auch. Doch die Dänen sind einfach viel entspannter und verstehen es, das Leben zu genießen. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür: ‚hygge‘. Schaut man hier abends in die Häuser, sieht man die Bewohner zusammen mit Freunden vor dem Kamin an einer großen Tafel voller Kerzen sitzen und essen. Gemütlichkeit und Zufriedenheit, sich mit Menschen zu umgeben, die einem guttun, das ist ‚hygge‘.
Obwohl die Steuern hoch sind, habe ich den Eindruck, dass die Menschen hier mehr als zufrieden sind. Denn Dänemark verfügt über ein stabiles Sozialsystem, ein gut ausgebautes Verkehrsnetz und einen hohen Mindestlohn. Deutschland kann sich hier so einiges abschauen: Die Geh- und Fahrradwege führen gefühlt durch das ganze Land, auch die Digitalisierung ist hier schon viel weiter. Von der Terminvereinbarung beim Arzt, über den Parkschein, bis hin zur Steuererklärung, sogar die Scheidung gelingt mit einem Klick im Internet. Hier ist außerdem kaum Bargeld im Umlauf, selbst das Brötchen beim Bäcker wird mit Karte bezahlt.
Eine Sache vermisse ich aber: einfach so frei drauf los zu quatschen. Ich lerne zwar Dänisch, aber noch fällt es mir schwer, mich in der neuen Sprache so ungezwungen zu unterhalten wie in meiner Muttersprache.
Die Dänen sind aber unfassbar freundlich und hilfsbereit. Ich kann hier jederzeit bei den Nachbarn klingeln, einfach nur, um Fragen zu stellen. Die meisten sprechen sehr gut Englisch, viele haben sogar Deutsch in der Schule gelernt.“
Laura (26)
ist 2016 nach Neuseeland ausgewandert. Obwohl sie ihre neue Heimat liebt, schließt sie nicht aus, eines Tages nach Deutschland zurückzukehren.
„Nach meinem Schulabschluss habe ich zwei Jahre lang in Taupo als Au-Pair gearbeitet und dabei meinen jetzigen Freund kennengelernt. Er ist mir nach München gefolgt. Nach drei Jahren in Deutschland haben wir entschieden, nach Neuseeland zurückzukehren – trotz aller Bemühungen fiel ihm die deutsche Sprache schwer und in Taupo hatten wir beide Aussichten auf gute Jobs.
Für mich persönlich ist die Lebensqualität hier außerdem einfach höher: Mein Job als Eventkoordinatorin ist zwar stressig, aber auch sehr spannend. Mein Arbeitsplatz liegt nur zehn Autominuten von unserer Wohnung entfernt, so bleibt mir viel Freizeit. Im Sommer gehen wir zum Schwimmen oder Bootfahren an den nahen See. Für Wanderer und Radfahrer ist es hier paradiesisch.
In der Schule war Englisch nicht unbedingt mein bestes Fach, doch hier hatte ich nie Probleme, die richtigen Worte zu finden – die Menschen sind so offen und freundlich.
Trotz meiner Liebe zu Neuseeland schließe ich nicht aus, irgendwann wieder zurückzukehren, denn das Leben in Deutschland hat einige Vorzüge: Das Sozialversicherungssystem ist hier beispielsweise nicht so stabil wie dort. In Neuseeland gibt es keine gesetzliche Krankenversicherung. Viele Menschen erstellen deshalb Spendenseiten, um hohe Arztkosten begleichen zu können.“
Tobias (31) und Julia (30)
haben spaßeshalber an einer Greencard-Lotterie teilgenommen – und gewonnen. Nun genießen sie Sonne, Strand und Meer in Los Angeles, wollen aber nicht für immer bleiben.
„Seit Juli 2017 leben wir nun in der South Bay am Hermosa Beach, einem der schönsten Strände der USA. In Los Angeles spielt sich das Leben auf den Straßen ab, das lieben wir. Wir verbringen jede freie Minute draußen – brunchen mit Freunden, gehen auf Flohmärkte, Konzerte oder zu Sportveranstaltungen. Die Menschen sind hier sehr offen, man kommt überall miteinander ins Gespräch. Egal in welchen Laden man geht, die erste Frage lautet immer: ‚Wie geht es dir und wie war dein Tag?‘ Sicher ist diese Freundlichkeit oft nur oberflächlich, dennoch ist uns das lieber als die mürrische Art vieler Deutscher.
Der Start hier war allerdings hart. Wir haben auch schon in München gelebt und wussten, wie mühsam eine Wohnungssuche sein kann, doch LA hat alles übertroffen. Hinzu kam, dass wir in den USA keine ‚credit history‘ hatten, die ist vergleichbar mit der deutschen Schufa-Auskunft. Von der Wohnungssuche über den Handyvertrag bis hin zum Autokauf wurde alles zur Nervenprobe. Da Tobi einen Arbeitsvertrag hatte, konnte er immerhin eine ‚kleine‘ Kreditkarte bei der Bank bekommen. Ich machte mich sofort an die Jobsuche – doch hier ist es nicht ungewöhnlich, auf 90 Prozent der Bewerbungen keine Rückmeldung zu bekommen. Nach drei Monaten intensiver Suche hat es dann aber endlich geklappt und ich habe eine Stelle im Social-Media-Bereich gefunden.
Obwohl wir nun gute Jobs, eine großartige Wohnung und echte Freunde gefunden haben, sehen wir unsere Zukunft nicht hier. Denn in den USA wollen wir keine Kinder großziehen, hier gibt es lockere Waffengesetze, mehr Kriminalität und Armut. Deutschland ist in vielerlei Hinsicht sicherer. Auch die Krankenversicherung und der Arbeitsschutz sind verglichen mit den deutschen Modellen lückenhaft. Außerdem hat das deutsche Bildungssystem viele Vorteile, vom Kindergarten über die Schulen, bis hin zur Universität – das meiste ist kostenfrei. Unsere amerikanischen Freunde zahlen hingegen heute noch ihre Studienkredite ab. Dafür sind die Aufstiegschancen in Unternehmen in den USA aber definitiv höher.“