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Eine Stadt ist immer dann am schönsten, wenn man wegzieht

Illustration: Daniela Rudolf / Foto: Robin Benzrihem / Unsplashp

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Da drüben an der Häuserecke, dieses Türmchen, wurde das schon immer so schön von der Abendsonne angeleuchtet? Und der Maroni-Verkäufer am U-Bahnhof, war der vor vier Monaten auch schon so witzig? Warum fällt mir dieses süße Knopfgeschäft in meiner Nachbarschaft erst jetzt auf?

Während ich die letzten Tage meines Aufenthalts in dieser Stadt, in der ich nun mehr als ein halbes Jahr gelebt habe, durch die Straßen spaziere, fühle ich mich wie frisch verliebt. Entzückt betrachte ich Gebäude und beobachte Menschen, an denen ich all die Monate davor nur hektisch vorbeigeradelt bin. Und je näher mein Abschied rückt, desto sicherer bin ich mir: In so einer wunderschönen Stadt werde ich nie wieder leben!   

Das Drama, das sich da abspielt, ist mir nicht neu. Deshalb ist es auch egal, wie die Stadt heißt, in der ich gerade lebe, denn prinzipiell ging es mir überall so, wo ich mich längere Zeit wohlgefühlt habe. Egal, wie schwer es mir zwischenzeitlich fiel, an einem Ort anzukommen. Egal, welche Liebesdramen sich dort ereigneten oder welche schlechten Erfahrungen ich gemacht habe: Am Ende sehe ich nur noch die positiven Seiten dieser einen Stadt und rausche mit meiner rosa Brille durch die Straßen, als wäre für immer Frühling. 

Liebe auf den ersten Blick gibt es bei Städten selten. Im Gegensatz zum echten Verliebtsein, wo man am Anfang alles an der anderen Person faszinierend findet, verläuft die Stadt-Liebe genau andersrum. Statt gegen die graue Last des Alltags kämpfen zu müssen, die früher oder später jede zwischenmenschliche Beziehung auf die Probe stellt, wird mit der Zeit (fast) jede Stadt liebenswert. Wie schön die Umgebung ist, in der man längere Zeit gewohnt hat, wie sehr einem die Menschen, die Sprache, der Dialekt fehlen werden, fällt einem erst dann auf, wenn der Abschied kurz bevorsteht. In diesem Liebeshoch werden einem rückblickend die drei Phasen der Stadt-Liebesbeziehung klar, die man bis zum traurigen Abschied durchlebt hat. 

Phase 1: Ankommen

Fremde Städte sind am Anfang anstrengend. Alle Menschen hier scheinen ein Ziel zu haben, nur man selbst irrt orientierungslos herum, erkennt die eigene Kreuzung nicht wieder und alles sieht irgendwie gleich aus.

Zwischen Wohnungssuche, Meldeamt und Einzugsstress bleibt wenig Zeit, sich mal umzuschauen, wo man hier eigentlich gelandet ist. Wenn man am Abend dann doch mal spontan was trinken gehen will, findet man intuitiv keine gemütliche Bar. Auch die Auswahl an Menschen, mit denen man sich überhaupt verabreden könnte, tendiert gegen Null. Die ersten Wochen in einer neuen Stadt sind deshalb frustrierend. Immer wieder fragt man sich: Warum bin ich bloß hierher gekommen? War ich an meinem alten Wohnort nicht viel glücklicher? Die alte Liebe – oder mindestens die Gewohnheit – wirkt in dieser Phase noch stark nach. Unvorstellbar, dass es jemals eine bessere oder zumindest genauso tolle neue Heimat geben könnte!     

Phase 2: Alltag

So langsam weiß man, an welcher Stelle der U-Bahn man aussteigen muss, um direkt an der Rolltreppe zu landen. Routiniert quetscht man sich wie alle anderen in die öffentlichen Verkehrsmittel, ohne davor noch drei Mal zu checken, ob das jetzt echt die richtige Bahn ist. Per Schneeballprinzip hat sich ein kleiner Freundeskreis entwickelt und im eigenen Viertel hat man schon die Kneipe seines Vertrauens gefunden, wo man ab und zu mal was trinken geht. 


Am Wochenende gibt es eher zu viele als zu wenig Freizeitmöglichkeiten – und am Ende bleibt man zu Hause, wo man sich ganz gut eingelebt hat. Den Rest der Zeit geht man arbeiten, einkaufen, ein bisschen Sport treiben. Man verfällt in einen Alltagstrott, wie man ihn so schon an anderen Orten gepflegt hat. Wenn man Party-Bilder aus der alten WG sieht, wird man vielleicht noch mal ein bisschen wehmütig, dafür wird man mittlerweile auch in der neuen Stadt auf Partys eingeladen. So wird das Stadt-Weh Stück für Stück durch neue Erinnerungen ersetzt.   

  

Phase 3: Herzschmerz

Nur noch zwei Wochen bis zum Umzug? Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Und warum habe ich diese grandiose Stadt nicht viel, viel, viel mehr ausgenutzt? Unter die Wehmut, nicht genug ins Museum, in die Parks und Clubs dieser Stadt gegangen zu sein, mischt sich das Gefühl tiefer Zuneigung. Nie fand man diese Stadt, in der man längere Zeit vor sich hingelebt hat, so einzigartig. Man möchte noch unendlich viel mehr Zeit haben, dieses spezifische Lebensgefühl zu genießen, das es so sicherlich nur hier gibt.

In einem Rausch aus Erlebnislust plant man die letzten Tage in einer Stadt so voll, als würde danach der Weltuntergang bevorstehen. Noch ein letztes Mal am Kanal sitzen, in diesem einen Café auf die Straße schauen, abends ins Theater und danach noch ein Bier trinken gehen. Alles riecht schwer nach Abschied und genau deshalb ist man sich sicher: Das ist Liebe.  

Man merkt erst mit der Zeit, dass sich auch bei der Stadt-Liebe Muster wiederholen wie bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Es kommen neue Abschiede, die genauso schwer sind. Aber es kommen auch neue Städte, die genauso toll, wenn nicht sogar viel toller sind. Die Endzeitstimmung gehört genauso zu diesem Auf und Ab, wie die Unsicherheit bei jedem Neuanfang. Je öfter man aber diese Phasen der Stadt-Liebe durchmacht, desto weiser wird man. 

Mit Zuversicht kann ich schon bald an einen neuen Ort ziehen, weil ich weiß, dass es nach einem holprigen Start eigentlich überall immer besser wird. Wenn man sich vom Mythos der Liebe auf den ersten Blick verabschiedet, birgt ein Umzug, im Gegensatz zum echten Liebesleben, kaum Frustrationspotenzial. Die Liebe entwickelt sich ganz organisch mit den Menschen, die man trifft, und wächst mit jedem Ort, den man mit Bedeutung auflädt. Das kann in Kaiserslautern genauso passieren wie in Paris. 

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