- • Startseite
- • Reise
-
•
Survival-Kolumne: Die Mitfahrgelegenheit
Spätestens nach dem Zweiten Weihnachtsfeiertag warst du dir plötzlich nicht mehr sicher, ob hier nicht ein Missverständnis zwischen dir und deinen Eltern vorliegt: Warst du davon ausgegangen, dass du ihnen zuliebe noch mindestens bis zum 30. Dezember in ihrem Heimatort bleiben solltest, fühlte es sich langsam so an, als würden sie deine Abreise kaum erwarten können. Nach der dritten, nicht mehr wirklich zarten Nachfrage („Sag mal, musst du denn nicht auch irgendwann mal wieder arbeiten?“) hattest du verstanden: Du musst hier weg. Diesen Geistesblitz haben aber offenbar so einige Menschen kurz vor Silvester, die Bahnpreise gehen ins Vierstellige, einzig finanzierbares Transportmittel in die Wahlheimat: die Mitfahrgelegenheit.
Überzeugter Fan von vollgepackten Kleinwägen und Smalltalk über die beste Raststätte bist du allerdings nicht. Nachdem dir deine Mutter aber unvermittelt die gepackte Reisetasche vor die Füße geworfen hat, buchst du die Fahrt mit Henning, durchschnittsdeutscher Durchschnittsmensch, der dich auf dem Weg von Buxtehude nach Berlin aufgabeln kann. Wie stehst du das durch?
Da wäre zunächst mal die Auswahl des Fahrers: Musste man früher noch so richtig mit den Anbietern sprechen, reicht mittlerweile ein Klick, auch die Bezahlung erfolgt meist im Vorfeld, die Plattform mit dem Bla-Bla im Namen tut alles, um das menschliche Miteinander oder gar Kommunikation möglichst auszumerzen. Man kann als Fahrer sogar angeben, wenn man keinen Bock auf Gespräche hat. Hier der erste Tipp: Selbst wenn du null komma null Lust hast, dich auch nur zu einem „Hallo!“ durchzuringen, entscheide dich nie für einen solchen Fahrer. Macht man einfach nicht. Wir sind immer noch Menschen.
Die Reichen sind die Besten
Zur Auswahl des Fahrers ein weiterer Ratschlag: Die Reichen sind die Besten. Zumindest, wenn du Wert auf Schweigsamkeit, Komfort und Geschwindigkeit legst. Ein Manager, der wöchentlich zwischen München und Berlin pendelt, bringt dich sicher und mit 250 km/h ans Ziel, stellt kaum Fragen, ist mehr Maschine als Mensch. Und fährt einen 7er BMW mit Massagesitzen.
Gehörst du eher zur passionierten Bla-Bla-Fraktion, die jede Begegnung mit anderen Menschen für heilig hält, wähle einfach den Mittzwanziger-Fernbeziehungs-Neuling. Beim Studieren der Route, dem Einladen der Taschen („Hihi, wie Tetris!“), drei Wendemanövern und vier Pausen in acht Stunden Fahrt werdet ihr sicher eine Verbindung fürs Leben schaffen!
Fahrt gebucht? Dann auf zum Treffpunkt, bitte immer zehn Minuten zu früh, es ist Deutschland hier. Henning kommt fünf Minuten zu früh angekurvt, sein Auto sieht aus wie besprochen, er sieht aus wie sein Profilbild. Der Parkplatz am Ortsrand ist menschenleer. Trotzdem wirst du nicht umhinkommen, ihn zu fragen, ob er denn Henning sei, er wird antworten „genau, nach Berlin, nicht wahr?“ Dieser Einstieg ins „Gespräch“ ist unumstößliche Tradition, bitte stell ihn nicht infrage!
Entscheidend: Die Platzwahl
Nächste Faustregel: Bis zur Autobahn ist Smalltalk-Pflicht. In diesem Minuten hast du Zeit, mal ein völlig anderes Ich auszuprobieren. Du wolltest mal Chirurgin werden? Regisseur? Hier bist du es, zumindest so lange Henning nicht auch im jeweiligen Bereich arbeitet. Lass dir ein paar Anekdoten einfallen, knifflige OPs, Schauspieler mit Starallüren, sowas. Ist die Autobahnauffahrt erreicht, darfst du auch wieder schweigen, sofern kein echtes Interesse entstanden ist. Zumindest, wenn du auf dem Rücksitz sitzt.
Ganz vergessen nämlich: Die Platzwahl ist entscheidend. Ein Gespräch zwischen Rückbank und Fahrersitz ist spätestens auf der Autobahn schwierig, als Beifahrer allerdings hast du die Pflicht, den Fahrer bei Laune und wach zu halten, komme was wolle. Willst du das partout nicht, solltest du andere Mitfahrer mit eigenartigen Argumenten überfordern. Der Klassiker „Ich habe kaum geschlafen, werde also gleich wegratzen“ ist nicht mehr glaubwürdig. Was besser zieht: Die Psycho-Nummer! Erzähl was von dunklen Energien, einer falschen Anordnung der Shakren, solltest du vorne sitzen müssen. Oder Airbag-Paranoia. In den ersten Sekunden eures Zusammenseins ist der Drang zur Höflichkeit so groß, dass dir für fast jedes Argument Verständnis entgegengebracht werden wird.
Die Fahrt läuft, je nach Gesprächslust schweigsam oder intensiv, siehe oben. Dein Fahrer braucht eine Pause? Hier nur ein einziger Tipp: Sollte die Route es irgendwie ermöglichen, suche die Brückenraststätte Frankenwald auf. Sie ist die einzige nicht trostlose Raststätte in Deutschland. Das Paradies des Autobahn-Romantikers, gerade, wenn es schon dunkel wird. Eine Brücke, in der man Schnitzel essen kann, während LKWs unter einem hindurchfahren. Liebe. Ok, Ende des ungesponserten Werbeblocks. Oh, und meide Himmelkron.
Letzte kritische Phase eurer gemeinsamen Reise ist die Verhandlung über den Absetz-Ort. Natürlich willst du so nah wie möglich an deine Wohnung, stehst damit aber in direkter Konkurrenz zu den anderen Mitfahrern. Hier gilt es, die Route schon früh zu deinen Gunsten zu beeinflussen, zum Beispiel mit fachmännisch vorgetragenen Sätzen wie „wenn wir von Westen reinstechen, sparen wir uns den Fernfahrerstau“ oder „Zentrum ist immer dicht, da müssen wir außen rum, am besten über Viertel XY“, wobei du bei XY dein Viertel einsetzt.
Nach einem Abschied zwischen Eile und Resthöflichkeit bist du dann irgendwann endlich daheim und hast Zeit, dein auf der Fahrt leergedaddeltes Smartphone aufzuladen. Dort entdeckst du die Nachricht deiner Eltern: „Gut angekommen? Schade dass du schon wieder weg musstest.“