Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Zu Besuch im Freizeitpark der Kindheit

Foto: Alexander Krützfeldt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Der Eintritt in den Freizeitpark kostet 18,50 Euro. 18,50 Euro! Ich meine: Das war mal angedacht als Mindestlohn in der Schweiz. Kann man für diesen Park nicht mehr verlangen, finde ich, außer, man wollte ihn kaufen. Ich stehe dem Eingang unschlüssig gegenüber. Und er mir.  

Der Magic Park in Verden an der Aller ist „Deutschlands einziger Freizeitpark der Magie!“. Er ging zweimal pleite und hat mehrfach den Namen geändert: Märchenwald Verden (1971) -> Freitzeitpark Verden (2002) -> Magic Park Verden (heute). Hier habe ich meine Kindheit verbracht. Ich in viel zu großer Windbreaker-Jacke. Ich in Gummistiefeln, die nach innen knicken. Ich: stotternd. Ich, wie ich aus dem Baum falle und auf dem Boden aufschlage. Drei Nägel schossen sie mir in den Ellenbogen. In diesem Park schlug ich mir die Fresse an der Teppichrutsche auf. Lachte mit dem Clown. Wollte werden wie er: berühmt und lustig und eigenwillig, nicht Mainstream. Letztlich bin ich dann auch geworden wie er: ein blasser Außenseiter. Später stieg ich mit Dosenbier, Joints und Freunden nachts über den Zaun. 

Wenige Autos stehen heute auf dem Parkplatz. Kaum Besucher. Und ich bin selbst kaum freiwillig hier: Die jetzt-Redaktion hat mich gezwungen („gebeten“), mich von meinem früheren Ich zu verabschieden. „Guck doch mal“, hatten sie gesagt, als gäbe es da noch irgendwas zu entdecken oder eine Chance, auf den einsamen Waldwegen auf meine verirrte Kindheit zu treffen, die bis heute den Ausgang nicht gefunden hat. 

Am Kassenhäuschen bekomme ich von einer mildelächelnden Frau einen Flyer in die Hand gedrückt. Fühlt sich traurig an, wie eine Begräbniseinladung. Ein Mann mit müdem Gesicht fegt etwas Laub, so wenig, dass es nicht gefegt werden müsste. Nur ordentlich oder schon einsam?

Früher habe ich am Eingang immer diese Plastikgreifer gekauft, die hatten einen Dinosaurier-Kopf, damit konnte man anderen ins Gesicht fassen oder Müll auflesen, was praktisch ist: seine Besucher dezent zum Mitsammeln aufzufordern. Wegen Umweltschutz, geht alle was an. Der pinke Saurier war das Maskotten und hieß Verdi. Weil der Park in Verden steht. So einfach ist das. Hat keine Werbeagentur mehrere Monate drüber nachgedacht.

Die Plastikgreifer sind abgeschafft, sagt man mir. Gibt jetzt Minions

Heute gibt es den Saurier nicht mehr. Vielleicht hat er den Namensrechtsstreit gegen eine große deutsche Gewerkschaft verloren oder ist weggezogen, wie wir alle irgendwann weggezogen sind. Zum Studium, zum Militär, zur Friseursausbildung. Ich lese die Parkregeln auf dem Flyer: Punkt neun. „Der Betrieb von Kofferradios, Kassettenrecordern u.ä. Geräten sind untersagt.“ Alles kommt mir weit weg vor. Ich hatte damals noch einen Walkman, von dem ich dachte, das „WM“ in der Seriennummer stünde für: Weltmeisterschaft. 

Ich passiere das Drehkreuz. Die Plastikgreifer sind abgeschafft, sagt man mir. Gibt jetzt Minions.

eingang

Der Park wurde mehrmals umbenannt. Heute ist er angeblich magisch.

Foto: Alexander Krützfeldt

Den alten Spielplatz gibt es noch. Flashback. In meiner Erinnerung war alles breiter, höher, länger. Der Park ist für Unter-Zehnjährige konzipiert. Ich blicke in den Park-Reiseführer. Das alte Zirkuszelt scheint noch da zu sein. Aber der alte Clown nicht. Gibt einen neuen: Er macht viel mit Effekten und sieht aus wie 13. Vielleicht ist er Youtuber.

Ich fahre mit dem Western-Express, man zieht an einem Seil, dann geht es los. Personal braucht man hier nicht mehr: die Maschine hat den Menschen ersetzt. In den kleinen Zügen sitzen kleine, dicke Kinder und beobachten mich wie einen Spitzel. Ich zwänge meinen Arsch in den Wagen und komme kaum wieder heraus. Eltern mustern mich. Eltern tuscheln und sehen mich dabei an. 

Das war früher schon so. Die Leute tuschelten, wenn meine Freunde und ich auf Partys kamen. Möglichkeit a): Sie fanden uns einfach sehr cool. Möglichkeit b): Sie hatten vor Teilen der Gruppe Angst. Möglichkeit c): Wir sahen einfach sehr dumm aus: breit, und mit Basecaps, verkniffenem Blick, und der Arroganz der Jugendlichkeit. Jungen trainieren ihre „Männlichkeit“.

An den Fahrgeschäften hängen noch kleine Aschenbecher. Rauchen ist heute nicht mehr erwünscht. Früher wurde überall geraucht. Es gehörte zum guten Ton. Jugendliche waren cool, wenn sie hart rauchten, nicht, wenn sie hart Sport machten. Ich werde sentimental. Wann ist das vorbeigegangen? 

Hier beginnt jeden Tag eine Kindheit, aber meine endet

Vielleicht hatte die Redaktion recht: Hier beginnt jeden Tag eine Kindheit, aber meine endet. Lachse kehren zum Laichen und Sterben an den Ort ihrer Geburt zurück. Ich möchte kein Lachs sein, und sterben oder laichen möchte ich auch nicht, aber die Quintessenz ist: Der Park ist gar nicht so alt geworden. Ich bin es.

Wann bin ich erwachsen geworden? Eigentlich dachte ich, dass ich das gar nicht bin, aber dann fiel mir irgendwann auf, dass immer mehr meiner Altersgenossen Hemd trugen, Bausparverträge hatten, Eigenheime planten, Chefredakteure wurden. Und plötzlich war ich wieder: der Letzte. Das trifft mich. Das beschäftigt mich. Wenn ich Stress habe, kriege ich Hunger. Früher habe ich dann 20 Chicken Nuggets gegessen. Heute habe ich mehr Respekt vor dem Leben.

spielplatz

Da hinten ist er ja noch, der alte Spielplatz

Foto: Alexander Krützfeldt

Ich zünde mir eine Zigarette an. Über die Schulter gucke ich, ob Eltern in der Nähe sind. Sie würden mich verfolgen und hetzen und wenn ich nicht mehr könnte, würden sie mich tottreten und dabei mit dem Smartphone filmen, weil ich ein schlechtes Vorbild bin. Der Rauch schmeckt metallisch. Verbote zu brechen, das war schon früher wie warme Suppe im Magen. Ich glaube, ich mag es hier eigentlich doch. Die Welt ist leicht und klar und alles ist gut verständlich oder erklärt.

Wir, mein Rauch und ich, schlendern durch den Märchenwald. Ich lasse mir Hänsel und Gretel vorlesen. Das Hexenhaus ist klein. Der Ofen – wie übel ist das eigentlich? Der Mensch setzt seine Kinder hierhin und lässt sie die Geschichte hören, wie zwei Kinder im Wald ausgesetzt werden, sogar mehrmals, und dann knusprig gebraten werden sollen. Was ist das? Eine Drohung? Ein Ausblick auf die Zukunft? Kinder rutschen auf ihren Stühlen hin und her. Hier stand ich auch: zwei dicke Fäustchen am Gatter. Hänsel und Gretel. Hase und Igel. Ich war immer für den Igel. Cool wäre gewesen, gleich für den Hasen zu sein.

Ich rutsche und vergesse die Welt und die Welt vergisst mich. So war es immer

Nahe dem Märchenwald schimmert eine Achterbahn durch die Bäume. Die ist neu. Auf einem Schild steht, dass die einen Fahrgeschäfte nur vormittags, die anderen nur nachmittags laufen. Wegen Strom und zu wenig Kundschaft. Nebensaison. Es klingt nach einer Ausrede.

Ich schlendere an der Bahn vorbei, schlendere an den Zelten vorbei, schlendere an den Fotoautomaten vorbei und stumm durch den Streichelzoo. Ich vergesse, Futter am Automaten zu ziehen — die Ziegen und Alpakas schauen mir verstört nach. Danach rutsche ich und vergesse die Welt und die Welt vergisst mich. So war es immer. 

Da ist sie, die alte Dinosaurier-Insel! Das Herzstück. Als Kind habe ich meine Eltern immer schnell bis hierher gezerrt. Früher konnte man um sie herum fahren, mit einem großen Holzfloss und einem Stamm, mit dem man sich an den Seiten des Wasserkanals gegen die schlickigen Mauern abdrücken konnte als wäre man auf einem Bayou und Verden wäre in scheiß Louisiana. Ich meine: Als Kind dachte ich das wirklich.

 

Die Flöße sind weg.

Die Stämme sind weg.

Nur eine Holzbrücke überspannt das Wasser. Ein Schild davor: War zu gefährlich, wegen der Kinder. Hätten ins Wasser fallen können. Früher war weniger Sicherheitsbewusstsein. Der leichte Rost am Schild ist wie das Leben: Die frische Zellteilung hat aufgehört, ab jetzt bildet der Körper nur noch Metastasen.

 

Die alte Wasserwand ist noch da. Mit einer Spritzpistole muss man einen Gummiball durch ein Labyrinth in ein Loch schieben. Das war früher schwer. Heute schaffe ich es leicht. Was hat das zu bedeuten? Ich denke zurück an die Zeit, als ich es nicht geschafft habe. Ich habe geheult und dann nochmal geheult, wenn meine Mutter mir keinen Greifer am Ausgang kaufen wollte. Bis ins Auto. Ich habe geschrien und mir anschließend fest in den Arm gebissen. Heute habe ich Geld und könnte mir zehn Greifer kaufen. Aber ich will nicht mehr.

mammut

Früher war das Mammut stolz und frei. Was ist es heute?

Foto: Alexander Krützfeldt

Als ich Kind war, waren da Wünsche: Ich wollte berühmt sein, Kanzler werden oder wenigstens Astronaut. Am Anfang legst du dir alles zurecht, du sagst: Außenminister ist auch gut. Dann: Fraktionsvorsitzender reicht völlig. Dann: wenigstens Landesparlament. Dann: Stadtparlament, wollte immer nahe der Heimat bleiben und habe Familie. Und eigentlich belügst du dich nur selbst. Am Schluss sagst du noch: Sei nicht traurig, du brauchst das alles nicht. Dein Leben ist auch so ganz schön. Und in deinem Herzen lässt der kleine Junge, der du mal warst, traurig die Beine vom Geländer baumeln und schaut auf seine Schuhe.

 

Ich stehe am Ausgang und der Ausgang steht vor mir wie ein sehr höflicher Ober. Vielleicht sollte ich das nächste Mal vorher eine Tüte rauchen? LSD nehmen? Um den Melatoninspiegel wieder auf Kleinkind-Niveau anzuheben? Vielleicht wird es dann schöner?

 

Früher stand am Ausgang der pinke Saurier „Verdi“. Ich sagte ihm auf Wiedersehen und er nahm mich in den Arm

 

Da steht ein einsames Mammut auf dem Podest am Ausgang. Früher stand es bei den Sauriern auf der Insel. Davor, auf einem Schild, wird erklärt, was ein Mammut ist. Früher war es mal stolz und frei und wild. Und was ist es jetzt?

 

Ich bin das Mammut. Ich möchte aber nicht das Mammut sein. Danke, Redaktion. Wirklich tolle Idee. 

 

Früher stand am Ausgang der pinke Saurier „Verdi“, wackelte unbeholfen und gab jedem die Hand zum Abschied. Sein freundliches Gesicht werde ich nie vergessen. Ich sagte ihm auf Wiedersehen und er nahm mich in den Arm. Als ich als Jugendlicher nachts wiederkam, hatte ich jedes Interesse an „Verdi“ verloren. Auf den Flyern und Plakatwänden sah ich nur sein verwirrtes, verrücktes, verpsychtes, pinkes MDMA-Gesicht. Es sah aus wie unsere Gesichter. Vielleicht hatten wir das Interesse an uns selbst verloren. 

 

Verdi. Wo du wohl bist?

 

Ich passiere das Drehkreuz. Dann höre ich seine Stimme. Leise. Im Kopf. Er klingt matt und müde und krank und alt und so weit entfernt. „Geh bitte“, sagt er. „Sag niemandem, dass du hier warst.“

 

Ich bin das Mammut. Nur ein einsamer, zerzauster und sonderbarer Elefant auf einem Podest mitten im Wald. Ich müsste dringend mal zum Frisör, aber ich hab morgen wieder eine wichtige Deadline.

 

Das war’s dann wohl.

 

Zum Abschied beiße ich mir fest in den Arm. Wenigstens der Schmerz schmeckt wie früher.

Mehr Reise-Gedanken:

  • teilen
  • schließen