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Beim Reisen wird Deutsch zur Geheimsprache

Illustration: Julia Schubert

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„Zwanzig ist zu viel. Schau mal weniger begeistert, dann geht er mit dem Preis runter.“ Diesen Tipp gibt mir meine Freundin, als ich (eine schlechte Verhandlerin) gerade auf dem Otavalo-Markt in Ecuador einen Schal probiere. Sie sagt das einfach so, in normaler Lautstärke, direkt vor dem Händler, der ihn mir natürlich (wir sind auf einem Markt!) zu teuer verkaufen möchte. Ich ziehe den rechten Mundwinkel leicht nach unten und die Augenbrauen zusammen, betrachte mich mitsamt des Schals gespielt zweifelnd im Spiegel. Kurz danach kaufe ich das Teil für weniger. Dass der Händler uns auf Deutsch nicht verstehen konnte, war in diesem Moment einfach herrlich nützlich.

Aber auch sonst ist mir meine Muttersprache nirgends so lieb wie im fremdsprachigen Ausland. Denn da werden die Worte, die in der Heimat alle um mich herum verstehen, plötzlich und ohne weitere Anstrengung zur Geheimsprache. Während ich als Kind davon geträumt habe, irgendwann mal eine zu beherrschen, verwandelt sich das Deutsche im Urlaub ganz automatisch in ein Rätsel, das andere nicht entschlüsseln können. Die Sprache scheint auf einmal ganz exklusiv für mich und meine Begleitung da zu sein – und eröffnet so eine Möglichkeit, die ich zu Hause zwangsläufig aussortieren muss: absolute Ehrlichkeit, ständig und überall. 

Das trifft sich gut. Denn nie ist es so wichtig, offen reden zu können, wie beim Reisen in fremden Ländern. Nirgends muss man sich so genau mit dem oder der Partner*in über Kleinigkeiten besprechen. Wie viel sind wir bereit, fürs Taxi zu zahlen? Halten wir diesen Fahrer für vertrauenswürdig? Wo verstauen wir am Klügsten unsere Wertsachen im Hostel? Was in der Heimat oft klar ist (Preise, Sicherheitslage, Wege), muss im Ausland immer wieder neu mit dem oder der Begleiter*in verhandelt werden. Dabei wird man aber ungern von den Menschen verstanden, denen man noch nicht vorbehaltlos vertraut.

Ich habe Mitleid mit Menschen, deren Muttersprache eine Weltsprache ist

Natürlich hat so eine Geheimsprache noch andere, viel banalere Vorteile. Zum Beispiel: das Reden über andere Leute. Der Mensch, der nun zum dritten Mal am Strand an euch vorbei joggt, sieht dabei unfassbar gut aus? Oder die Touri-Gruppe nebenan nervt dich des Todes? Lass es raus. Dein*e Reisepartner*in ist auf Deutsch für dich da. 

Genau wie wenn du über, sagen wir, delikatere Themen reden möchtest. Sämtliche Gefühlsregungen der vergangenen Jahre, Masturbationstechniken oder moralische Fehlleistungen können auch beim Abendessen im Restaurant besprochen werden, ohne jemanden zu stören. Und wer die ersten Symptome einer Lebensmittelvergiftung bemerkt, braucht sich nicht ans Gegenüber zu lehnen, um ihr oder ihm die Worte „Mich sprengt's gleich“ ins Ohr zu hauchen, als sei es eine romantische Botschaft. Die Nachricht kann stattdessen mit gebührendem körperlichen Abstand ausgesprochen werden. Es hört sowieso niemand mit.

All diese Möglichkeiten verschaffen ein unfassbares Gefühl der Freiheit. Gleichzeitig empfinde ich aber auch Mitleid. Für all die Reisenden um mich herum, die sie nicht haben – weil ihre Muttersprache gleichzeitig Weltsprache wie Englisch oder Spanisch ist. Denn sie sind selten ganz alleine mit den Gedanken, die sie eigentlich gerne nur untereinander geteilt hätten.

Das schadet auch der Zweisamkeit dieser Reisepartner*innen. Deutsche, die sich durch ihre eigene Sprache von allen anderen abgrenzen können, kommen sich dagegen eher näher. Denn dass sie im Zweifelsfall jeden anderen aus dem Gespräch ausschließen können, macht ihre Gespräch zu einer ungeheuer intimen Angelegenheit. Jeder und jede Außenstehende merkt: Die da gehören zusammen. 

 

Plötzlich fühlt sich wie ein wahnsinniger Eingriff in die Privatsphäre an, wenn andere mithören

Einen Nachteil hat die Geheimsprache aber auch. Nämlich den, dass sie leider nicht immer so geheim ist, wie man vielleicht glaubt. Denn erstens sprechen auch viele Nicht-Deutsche mittlerweile unsere Sprache. Und zweitens reisen die Deutschen. Ganzjährig, überall hin. Ob Europa, Asien, Amerika oder Antarktis – wo eine deutsche Reisegruppe ist, findet sich meistens auch eine andere. 

Früher oder später erschüttert mich also immer dieser Moment auf Reisen, in dem ich feststellen muss, dass die Menschen am Nebentisch, auf dem Nebenhandtuch oder auf dem Nachbarbalkon eben doch alles verstehen konnten, was ich gerade gesagt und gehört habe. Plötzlich fühlt sich das, was in deutschen Zügen oder Restaurants absolut selbstverständlich ist, wie ein wahnsinniger Eingriff in die Privatsphäre an: dass andere Leute mithören. 

Vielleicht kommt daher auch der Hass, den die meisten deutschen Reisenden auf andere deutsche Reisende haben. Immerhin erinnern wir uns gegenseitig daran, dass wir auch in fremden Ländern nie ganz exklusiv, nie ganz losgelöst von daheim sein können. Denn irgendwer hört und versteht heute potenziell doch immer mit. 

Verhindern könnte man das wohl nur, indem man eine echte Geheimsprache lernt. Im besten Fall aber eine, die auch der oder die Reisepartner*in versteht. Denn eine zu geheime Geheimsprache ist dann ja auch wieder nichts wert.

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