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Witze sind die neuen Nachrichten

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Ganz kurz, für alle, die ihn noch nicht kennen: Das ist John Oliver, der zurzeit lustigste Mensch im Fernsehen:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
Oliver ist der Host der Sendung „Last Week Tonight“. Die ist einmal wöchentlich auf dem US-Sender HBO zu sehen, Oliver macht sich darin eine halbe Stunde lang über zwei bis drei Themen lustig. Wie gesagt ist er dabei sehr komisch. Das Bemerkenswerte an ihm ist aber etwas anderes. Seine Witze bewirken etwas. Ganz konkret. 

Oliver machte sich über ein Gesetz lustig, das Polizisten erlaubte, Bargeld und Eigentum von Menschen zu konfiszieren, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Das wurde online mehr als vier Millionen mal gesehen, jetzt kündigte Justizminister Eric Holder an, das Gesetz zu überarbeiten und zu beschränken.

In einem anderen Stück führte er seinen Zuschauern nicht nur vor Augen, wie absurd es ist, dass im Jahr 2014 noch Frauen in Bikinis auf das Urteil bekleideter Männer warten. Er deckte auch auf, dass die Organisation hinter den Schönheitswettbewerben nicht wie behauptet der weltweit größte Anbieter von Stipendien für Frauen ist und für diese Stipendien nicht wie behauptet 45 Millionen Dollar jährlich zur Verfügung stellt. Zum Schluss empfahl er seinen Zuschauern, statt an Miss America lieber Geld an die „Society of Women Engineers“ zu spenden. In den zwei darauffolgenden Tagen gingen dort 25.000 Dollar ein – was 15 Prozent dessen entspricht, was die Gesellschaft normalerweise in einem ganzen Jahr einnimmt.

Im Sommer schaffte Oliver es , seine Zuschauer und siebeneinhalb Millionen Youtube-Nutzer für das sperrige Technik-Thema Netzneutralität zu begeistern. Er bat sie, der zuständigen „Federal Communication Commission“ zu schreiben, damit diese von ihrem Plan ablässt, für zahlende Unternehmen eine Daten-Überholspur zu schaffen. Die Behörde bekam so viele Zuschriften, dass ihr Server zusammenbrach.

Vergangene Woche bezog sich ein US-Politiker auf John Oliver, als er einen Gesetzesentwurf einbrachte, demzufolge Bürger Gesetzesinitiativen per Online-Video kommentieren sollen.

Seine Zuschauer legen Regierungswebseiten lahm, Politiker ändern seinetwegen Gesetze. John Oliver schafft also, woran Parteien, Politiker und Nachrichtenmacher reihenweise scheitern: Menschen zu begeistern und zu politisieren. Sie dazu zu bringen, sich an Debatten zu beteiligen und sich mit Themen auseinanderzusetzen, an denen ganz groß das Etikett „Laaangweilig“ haftet oder die den durchschnittlich informationshungrigen Menschen normalerweise zu kompliziert, zu weit weg oder zu abstrakt erscheinen. Netzneutralität, Schuldenkrise in Argentinien, Wahlen in Indien, die Funktionsweise der staatlichen Lotterieunternehmen: alles keine Themen, die einen 15 Minuten – und so lang sind die Stücke in „Last Week Tonight“ meistens – am Bildschirm kleben lassen. Bei John Oliver schon. Weil bei ihm kein Fakt ohne einen Witz daherkommt, gleichzeitig aber jeder einzelne Witz eine Funktion hat: zu erklären, was schief läuft in der Politik, in der Wirtschaft, bei Sportfunktionären oder womit auch immer sich Oliver eben gerade beschäftigt. Als Zuschauer weiß man irgendwann: Bei „Last Week Tonight“ kann ich mich zehn Minuten amüsieren. Und gleichzeitig lerne ich meistens etwas Relevantes, das ich noch nicht wusste. Die Sendung ist dafür schon viel gelobt worden. Was Oliver macht, so behaupten manche, sei eigentlich investigativer Journalismus. Tatsächlich könnten die Informationen, die er transportiert, oft genauso gut in faktenlastigen Investigativ-Sendungen auftauchen, wie sie mit „Panorama“ oder „Monitor“ auch in Deutschland bei den Öffentlich-Rechtlichen laufen. Oliver verkleidet die Ergebnisse der zum Teil aufwendigen Recherchen seiner Redaktion aber als Satire und Comedy. Es gibt Hinweise, dass man mit dieser Taktik einen Bildungsauftrag besser erfüllt als mit normalen Informationsprogrammen. Dass Satire und Humor Fakten besser transportieren als trockene Nachrichtensendungen. Dass mehr hängen bleibt, wenn Leute wie John Oliver mit aufgerissenen Augen Witze reißen, als wenn Gundula Gause oder Jan Hofer distanziert das Weltgeschehen referieren. Eine Studie der University of Pennsylvania untersuchte, wie gut die Leute während des vergangenen US-Wahlkampfs über die Finanzierung der Wahlkampagnen informiert waren. Das Ergebnis: Zuschauer der Comedy-Central-Show „The Colbert Report“ wussten besser Bescheid als Leute, die sich mittels Nachrichtensendungen informierten. Eine weitere Studie (PDF) belegte, dass das Oliver-Publikum, die Zuschauer des Colbert Reports und der Satiresendung „The Daily Show“ mehr Fakten zum Thema Netzneutralität gehört hatten als die Zuschauer von Nachrichtensendern und die Zeitungsleser.

Und was sagt John Oliver selbst zu all dem? Sieht er sich als legitimer Nachfolger der Nachrichten, wie wir sie aus dem Fernsehen kennen? Nein. Im Gegenteil: Er wehrt sich gegen die Behauptungen, dass das, was er mache, irgendetwas anderes als Comedy sei. Er mache einfach Comedy, sagte er in einem Interview. Über Dinge, die ihn interessieren. Denn egal, was das Thema sei: „There’s fun to be had there.“ Text: christian-helten - Foto: AP

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