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Weil wir es nicht fassen können
Es ist keine drei Tage her, seit Paris von IS-Terroristen angegriffen wurde. Tage, an denen wir voller Fassungslosigkeit vor unseren Bildschirmen saßen, mit Freunden sprachen und versuchten, zu begreifen, was da passiert ist. Doch das reicht nicht. Zu vieles ist noch zu unklar, zu verwirrend, zu voll sind die Köpfe mit Fragen, Ängsten, Hoffnungen, Bildern, Momenten.
Wir haben diese Gedanken und Momente hier aufgeschrieben. Ungeordnet, ohne eine Gewichtung. Einfach nur, um sie auszusprechen. Um zu trauern, um zu hoffen, um weiter drüber reden zu können. Um nicht zu vergessen, was da war:
Die kurzen Momente nach den ersten Explosionen, als es aussah, als würde das Fußballspiel im Stadion kurz zusammenzucken.
Der Torjubel beim 2:0 für Frankreich, der so absurd wirkte: Da jubeln Fußballer, weil sie nicht wissen, dass draußen gerade Menschen andere Menschen töten und dass auch im Stadion Bomben hätten explodieren sollen.
Mehmet Scholls leerer Blick auf sein Mikrofon.
Die Angst im Gesicht des kleinen Jungen, der nach dem Spiel ins Fußballstadion zurückgerannt kam.
Das Mädchen, das in einem Handyvideo zu sehen ist, wie es an einem Fenster des Bataclan hängt, hoch über der Straße.
Die junge Frau, die weinend erzählt, dass sie im Bataclan eine Stunde lang in einer Blutlache lag und sich tot gestellt hat.
Die Frage: Wie hält man das aus? Sich eine Stunde lang zwischen Leichen nicht bewegen? Nicht schreien?
Die Unglaublichkeiten, die Matthias Matussek nach den Anschlägen auf Facebook geschrieben hat.
Die Lippen von François Hollande, die er während seiner ersten Rede vor angespannter Wut oder Trauer oder Fassungslosigkeit zu dünnen Strichen zusammenpresst.
Die Häufigkeit, in der Hollande das Wort “Krieg” benutzt.
Die Mutmaßungen, was die Attentäter gerade machen, die noch frei da draußen herumlaufen? Was essen sie? Wo schlafen sie? Worüber reden sie? Was geht in diesen kranken Hirnen jetzt vor?
Diese Band, die das alles so verdammt nah ran holt: Ich habe Karten für das Eagles-of-Death-Metal-Konzert in München. Würde ich in Paris leben, wäre ich im Bataclan gestanden. Hinten. Da also, wo man vermutlich reinkommt. Wo die Attentäter reingekommen sind. Da, wo man als erster stirbt. Würde ich in Paris leben, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Und meine Freundin wahrscheinlich auch.
Der Gedanke: War in diesem Konzertsaal vielleicht einer meiner Freunde und Bekannten aus Paris?
Die Erleichterung, als diese dann endlich auf SMS antworten, dass es ihnen gut geht.
Die Erkenntnis: Der “Safety-Button” auf Facebook hat wohl doch seine Berechtigung.
Der Hashtag #porteouverte, unter dem Hilfesuchende im Chaos Menschen finden konnten, die ihnen Unterschlupf boten.
Die Vorstellung, was für Szenen sich an diesen Türen und in den Wohnzimmern dahinter Freitagnacht abgespielt haben müssen.
Die Vorstellung, dass so vielleicht Freundschaften fürs Leben entstehen.
Die Frage: Was macht man eigentlich, wenn man merkt, dass Menschen mit Maschinenpistolen in eine Menge schießen? Geht man hinter anderen Menschen in Deckung? Oder stellt man sich vor sie? Und was sagt das eine oder das andere über einen aus?
Das Video, in dem Donald Trump sagte, dass das nicht passiert wäre, wenn alle Franzosen Gewehre hätten.
Die leeren Pariser Straßen am Samstagvormittag.
Der junge Mann, der sein zerstörtes Smartphone in die Fernsehkameras hält, weil es einen Bombensplitter abfing, der sonst seinen Kopf getroffen hätte.
Die Augenzeugen, die sagen, sie hätten die Schüsse für Knallfrösche gehalten oder beim Konzert für einen Teil der Show. Weil Maschinenpistolenfeuer in Paris einfach so unreal ist.
Die Augenringe von Thomas de Maizière, die von TV-Interview zu TV-Interview immer dunkler werden.
Die Angst, dass jetzt Nato-Truppen in Syrien einmarschieren, wie sie nach dem 11. September in Afghanistan einmarschiert sind. Und dass wieder keiner wissen wird, was eigentlich passieren soll, wenn man den IS besiegt hat.
Die Feststellung, dass keines der Länder, in dem Truppen in den vergangenen Jahren zur angeblichen “Demokratisierung” einmarschiert sind, heute wirklich demokratisch ist.
Der Moment, in dem bei Bild.de die Meldung “Einer der Attentäter war in Griechenland als Flüchtling registriert” aufleuchtet. Und man weiß: Fuck, das wird dieser ganzen eh schon sehr unseligen Debatte keine gute Wendung geben.
Die leichte Angst, wenn das Smartphone sein Eilmeldungs-Fiepen macht: Was ist jetzt passiert?
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, der im Deutschlandfunk so kluge Sachen wie “Die Willkommenskultur ist der größte Feind der Terroristen” sagt. Und das Wissen, dass viele Hörer darüber nur zynisch lachen.
Die Forderung nach Vorratsdatenspeicherung - die es in Frankreich seit mehr als zehn Jahren gibt.
Trikolore-Facebook-Profilbilder bei Leuten, die Pegida geliked haben.
Die Erkenntnis, dass es im Libanon am Wochenende auch Anschläge gegeben hat, aber keine Farb-Option auf Facebook.
Die Angst, Freunde oder Familienmitglieder hassen zu müssen, weil sie etwas über gefährliche Flüchtlinge sagen. Im schlimmsten Fall, dass sie das ja schon immer gesagt haben.
Die Frage, ob es es Fatalismus ist, wenn man sagt, dass man nichts, aber auch gar nicht gegen solche Anschläge machen kann?
Die Unsicherheit, ob man sich nach diesem Wochenende über den Tatort beschweren darf.
Die Unsicherheit, ob man schlecht über Menschen denken darf, die statt einer Beileidsbekundung ihren neuen Blogpost auf Facebook angeteasert haben: “Die 15 schönsten Urlaubsziele auf Bali”?
Und doch auch immer wieder technische Fragen: Wie viel Schuss sind in so einem Magazin? Und wie viele kommen da in der Sekunde raus?
Die Panik, die am Sonntagabend an einem der Tatorte noch einmal ausgebrochen ist.
Die Frage, wie man selbst reagieren würde, wenn es heute morgen in der Innenstadt einen lauten Knall gegeben hätte.
Das Grübeln darüber, ob Deutschland bislang nur mehr Glück hatte als Frankreich.
Die Angst davor, dass dieses Glück nicht ewig halten wird.
Das komische Gefühl, das man jetzt hat, wenn man an große Menschenansammlungen denkt.
Das komische Gefühl, dass das komische Gefühl so schnell nicht mehr weggehen wird.
Text: jetzt-redaktion