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Wählen gehen: 100 Euro

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Sie kleben an den Plakatwänden direkt vor seiner Haustür. Grinsende Politikergesichter auf Litfaßsäulen, Zeitungskiosken, Pappschildern. „Das gerechte Italien“ verspricht etwa ein großformatig lächelnder Pier Luigi Bersani, der Spitzenkandidat der Demokratischen Partei. Luca Cocco registriert Botschaften wie diese schon seit Wochen nicht mehr. Dabei geht der 28 Jahre alte Musiker täglich an den Bannern in Rom vorbei, auf denen die Gesichter um Sympathien werben, um Aufmerksamkeit, um Stimmen. Seine werden sie jedenfalls nicht bekommen, keiner von ihnen. Denn Luca geht nicht wählen, seit Jahren schon nicht mehr. „Es ist einfach zu teuer“, sagt er. „Wählen ist Luxus, teurer Luxus“.  



Tatsächlich müsste der 28-Jährige für den Gang ins Wahllokal an diesem Wochenende 100 Euro investieren. So viel würde ihn die Reise in sein fast 400 Kilometer entferntes Heimatstädtchen Nuoro auf Sardinien kosten. Nur dort kann er seine Stimme abgeben, denn eine Wahl per Brief erlaubt das italienische Wahlrecht nur in Ausnahmefällen. Einfach den Wohnsitz nach Rom zu verlegen, ginge auch nicht, daran ist sein Vermieter Schuld: Der will keinen Vertrag unterschreiben, um die Mietraten am Fiskus vorbei zu schleusen. So wohnt der Musiker schwarz zur Untermiete und meidet aus Angst vor der Finanzpolizei das Meldeamt. Wolle er einen offiziellen Mietvertrag, hatte sein Vermieter einst gesagt, zahle er 300 Euro mehr im Monat. Seitdem verzichtet der Freiberufler lieber auf sein Wahlrecht.

So wie ihm ergeht es unzähligen Praktikanten, Studenten und Berufsanfängern, Luca Cocco ist Teil eines Nichtwähler-Heers: Tausende junge Italiener werden wohl auch dieses Mal nicht ihre Stimme abgeben, weil ihnen einfach das Geld dazu fehlt. Die Wirtschaftskrise trifft junge Leute ohnehin hart, für viele von ihnen ist der Urnengang an diesem Wochenende außerdem mehr Qual als Wahl - keiner der antretenden Politiker ist sonderlich populär. Vor allem aber macht sich ein ungutes Gefühl breit: Keine Partei bemüht sich um die Stimmen der Jugend, die meisten Kandidaten sind in die Jahre gekommen. Und ausgerechnet junge Leute benachteiligt das Wahlrecht massiv.  

Diese Benachteiligung der „Ragazzi“ hat in den vergangenen Jahren groteske Züge angenommen. Weil viele ihren Wohnsitz nicht ummelden können und zum Wählen weit reisen müssten, ist von diesem Dilemma ausgerechnet die künftige Elite des Landes betroffen: Studenten, die kein Geld für die Heimfahrt haben. Noch absurder ist die Lage für Landsleute in der Fremde: Wer von dort aus wählen möchte, kann sich im Wählerverzeichnis für Italiener im Ausland (AIRE) registrieren lassen - aber nur, wer mindestens seit einem Jahr außer Landes ist. Ausnahmen von dieser Regel gibt es viele: für Politiker und Diplomaten, für Polizisten, Armeeangehörige und Wissenschaftler. Nur eine Gruppe mit mehr als 25.000 Bürgern wurde vergessen: die Studenten. Und das in einer Zeit, in der mehr als ein Viertel der italienischen Hochschulabsolventen sein Glück im Ausland sucht.  

Immerhin, eine gewisse Unterstützung gewährt der Staat willigen Jungwählern. Bislang sah das komplizierte Rabattsystem jedoch nur Geldspritzen für Inlandsreisen zur Wahl vor: Bis zu 40 Euro gibt der Staat für Flüge, Bahnfahrten werden mit bis zu 70 Prozent bezuschusst. Wer zum Abstimmen etwa von Mailand nach Neapel mit dem Schnellzug reist, bekommt für die 190 Euro teuren Fahrtkarten 133 Euro vom Staat beigesteuert. Als im Herbst auffiel, dass Studenten im Auslandssemester durch das Raster dieses Förderprogramms fallen, beschloss das Kabinett von Ministerpräsident Mario Monti kurzerhand Subventionen für Flüge aus dem europäischen Ausland. So zahlen nun Studenten des Austauschprogramms Erasmus, die mit der italienischen Fluggesellschaft Alitalia zu den Nationalwahlen fliegen, pauschal 99 Euro für Hin- und Rückflug. Für manchen Studenten ein Vermögen.  

Viel zu teuer ist die Heimreise daher auch für Politikstudent Giuseppe Lettieri, der seit vergangenem August ein Erasmus-Semester in Oslo absolviert. „Zum ersten Mal seit langem habe ich mich auf Neuwahlen gefreut“, sagt der 24-Jährige, schließlich sei beim ersten Urnengang nach dem Rücktritt Silvio Berlusconis das Ende einer politischen Epoche zu erwarten. Doch er wird nicht wählen gehen, weil auch ihm sein demokratisches Stimmrecht zu teuer ist. „Die Politiker ignorieren immer noch die künftigen Generationen, die dieses Land einmal führen werden“, sagt er. Frustrierend sei das, ja, aber er habe sich daran gewöhnt. Denn Politikstudent Lettieri hat noch nie gewählt.  

Sein kalabrischer Heimatort Crotone ist rund 1200 Kilometer von Turin entfernt, wo Lettieri zwar studiert - offiziell jedoch mangels Mietvertrag nicht wohnt. So müsste er zum Wählen zwei Tagesreisen durch die ganze Republik auf sich nehmen. Für einen stattlichen Preis: Hin- und Rückfahrt mit der Bahn zum Normaltarif kosten etwa 300, mit dem Flugzeug immer noch rund 180 Euro. Selbst mit allen erdenklichen Rabatten würde Lettieri weit mehr als 100 Euro zahlen, um sein demokratisches Grundrecht auszuüben. Ein Skandal, findet der Student: „Ich will endlich in einem zivilisierteren Land leben.“  

Lettieri ist nicht allein mit diesem Wunsch. Wie nie zuvor hat sich in den Monaten vor den diesjährigen Wahlen der Groll der Jugend gegen das Wahlrecht entladen - vor allem in Online-Petitionen, Blogs und sozialen Netzwerken. Besonderes Aufsehen erregte der Internet-Protest italienischer Erasmus-Studenten, die sogar eine symbolische Wahl im Netz organisierten. Ende Januar schaltete sich auch eine Gruppe aus Turin in die Debatte ein, die laut der Tageszeitung „La Repubblica“ schon seit fünf Jahren dafür kämpft, dass Studenten von ihren Universitätsstädten aus wählen können. Sie nennen sich „Io voglio votare“ - Ich will wählen. „Der italienische Staat garantiert dieses Recht nicht denjenigen, die nicht zu Hause wohnen“, schreiben die Internet-Aktivisten, „und die Regierung versteift sich darauf, sich dem Problem nicht zu stellen.“ Tatsächlich haben sich Parteien bislang kaum zu diesem Problem geäußert, und die Regierung wies entsprechende Begehren auch rasch zurück: Wegen „unüberwindbarer Hindernisse“ könne das Wahlrecht nicht für einzelne Gruppen geändert werden.  

Die Hoffnung darauf hat auch Musiker Luca Cocco längst aufgegeben. „Seitdem ich nicht mehr wählen kann, verfolge ich das politische Tagesgeschehen sowieso nicht mehr richtig“, sagt er und schaut auf den Dielenboden seines vollgestellten WG-Zimmers. „Wahlen über das Internet“, setzt er schnell nach, „das wäre vielleicht sinnvoll. Oder die Möglichkeit, zumindest in allen Provinzhauptstädten wählen zu können.“ Dass die italienischen Parteien solche Ideen eines Tages umsetzen, glaube er aber nicht. „Hier in Rom kann ich sicher nicht wählen“, sagt Cocco. Aber wenn er vielleicht eines Tages nach Sardinien zurückkehre, lebe er ja wieder nah genug an seinem zuständigen Wahllokal. „Dann kann ich mich endlich wieder an unserer Demokratie beteiligen“, sagt er und fügt grinsend hinzu: „kostenlos."



Text: peter-maxwill - und Eleonora Masi, Illustration: marie-claire-nun

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