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Vorsicht! Diese Leute wollen bei dir einziehen
1. Anna-Lena, die 18-jährige Abiturientin:
Kurzbeschreibung: Nesthäkchen aus gutem Elternhaus, zum WS 08/09 eingeschrieben, Wochenendheimfahrerin. Traurige Streberin, lässt sich aber noch zur coolen Nuss ummodeln Das sucht sie: eigene vier Wände, eigenes Leben, Anschluss Das bringt sie zum Casting mit: Ihre Mutter Ihr Satz: „Meine Eltern schreiben mir eine Bürgschaft, das ist gar kein Ding." So lebt es sich mit ihr: Zunächst recht angenehm: seitdem ihre Mutter beim Einzug tagelang in eurer Wohnung rumgewuselt ist, ist nämlich euer Vorratsregal voll, ihr habt neue Töpfe, ein gutes Brotmesser und diese kackbraune Stelle im Bad ist plötzlich verschwunden. Nachdem die Mutter weg ist, raucht sie erstmal eine Zigarette im Bett, denn das ist im neuen Leben erlaubt. Allerdings kann es anstrengend mit ihr werden. Sie kann nur Nudeln mit Soße kochen, kauft nie Mülltüten und wenn ihr auf eine Party eingeladen seid, malträtiert sie euch solange mit Rehaugenblicken, bis ihr sie mitnehmt. Mit der Zeit bringt ihr eurer neuen kleinen Schwester das nötige Handwerkszeug bei, um sich eigenständig im Leben behaupten zu können. Dann könnt ihr als WG stolz darauf sein, einen neuen Menschen geformt zu haben.
2. Jule, die aufdringliche Sozpäd-Studentin:
Kurzbeschreibung: Rock über Hose, Vordiplom in Göttingen. Ist abenteuerlustig, pflegeleicht und findet es spannend, neue Leute kennenzulernen. Das sucht sie: Keine Zweck-WG, sondern eine aufgeweckte Gemeinschaft und Leute, die für jeden Quatsch zu haben sind. Auf jeden Fall unmöbliert, weil: ein Zimmer braucht Charakter und Persönlichkeit. Das bringt sie zum Casting mit: Fünf Jahre voller verrückter WG-Erfahrungen Ihr Satz: „Super, eine Wohnküche! Da kann man abends bestimmt gemütlich beisammen sitzen. Man muss sich natürlich aufeinander einstellen, wenn man zu mehreren zusammen wohnt… Und als Kind hat man ja auch irgendwie in einer WG gewohnt, ne? Klar, jeder braucht Freiraum und Zeit für sich…“ So lebt es sich mit ihr: Als erstes hängt sie all ihre indischen Decken auf, bis sie ihr Zimmer in ein einziges grinsendes, curryfarbenes Sonnengesicht verwandelt hat. Die Stellen an der Wand, die von den Tüchern nicht ganz überdeckt sind, bepflastert sie mit Bildern aus Eigenproduktion, auf denen funky Farbflecken herumtanzen wie M&Ms auf Ecstasy. Als nächstes holt sie ihren Freund vom Flughafen ab. Miguel war ihr Capoiera-Lehrer, als sie ein halbes Jahr in Sao Paolo gelebt hat und wird die nächsten sechs Monate mit euch zusammen in der WG wohnen. Weil sein Aufenthaltstatus noch nicht geklärt ist, wollt ihr die beiden doch nicht rauswerfen. Aber Pärchen in der Wohnung nerven schon ganz schön. Immerhin will sie nicht mehr mit euch Kartenorakel legen, solange ihr Freund da ist.
3. Urs, der Slacker aus Unterdupfingen:
Kurzbeschreibung: Frisch entlassener Krankenpfleger-Zivi, nun ab in die große Stadt, erstmal leben und leben lassen. Ist gegen den Ausbeuterstaat, manchmal redet er von sich in der dritten Person Das sucht er: Coole, entspannte Leute, nicht so ne stressige Spießer-WG wie die letzte Das bringt er zum Casting mit: Seinen Hund „Müsli“ Sein Satz: „Meine ehemaligen Mitbewohner würden sagen, dass ich sehr ordentlich bin. Ich putz auch gern mal das Bad. Aber Feiern darf auch nicht zu kurz kommen.“ So lebt es sich mit ihm: Das mit dem Putzen ist glatt gelogen, das hätte man eigentlich gleich an seinen vergrindeten Haaren merken können. Im seinem Zimmer hängt jetzt ein Poster mit der Aufschrift „Chaos ist mein Leben“. Außerdem hat er es unterlassen, anzukündigen, dass er am Wochenende ständig Besuch von Saufkumpanen aus seiner Schulzeit bekommt, mit denen er in der Küche „Mittelerde – das 4. Zeitalter“ nachspielt. Das Gute dran, wenn er einzieht: endlich gibt es eine Nintendo-Wii und eine Acrylbong in der WG. Das Schlechte: Er weiß nicht, was eine Klobürste ist.
4. Jens, der viel beschäftigte Schweiger:
Kurzbeschreibung: Abgeschlossenes BWL-Studium mit Auslandsaufenthalt, jetzt Jobangebot bei internationalem Großkonzern. Lebensmotto: „Work hard, party hard“ Das sucht er: Zentrale Lage, gute Anbindung an den ÖPNV, Supermarkt in der Nähe. Kein Teppich, kein Laminat. Das bringt er zum Casting mit: Fünf Minuten und einen gewieften Scannerblick Sein Satz: „380 warm, ja? DSL ist mit dabei?“ So lebt es sich mit ihm: Jens hat eine 50-Stunden-Woche und ist geschäftlich viel unterwegs. Auch mehrere Monate nach seinem Einzug stapeln sich immer noch seine Umzugskartons im Flur. Sein Zimmer ist spartanisch, aber teuer eingerichtet. Alle beneiden ihn wegen seinem Flatscreen-Fernseher. In seinem Kühlschrankfach ist entweder fröhliches Bio-Gemüse-Gammeln oder Dauerflaute. Wenn letzteres der Fall ist, bestellt er abends Pizza für alle. Dafür ist er beliebt und weil man ihn fragen kann, ob er einem mal was auf der Arbeit kopiert.
5. Verena, die verzweifelte Praktikantin:
Kurzbeschreibung: Quadratisch, praktisch, gut. Ideal wäre ab sofort, aber zur Not kann sie noch einige Tage bei ihrem Ex-Freund überbrücken Das sucht sie: Ein Dach über dem Kopf. Das bringt sie zum Casting mit: Zwei Koffer, einen Rucksack und eine Monatsmiete zuviel, als Reserve Ihr Satz: „Ach, mir reichen 9m² völlig. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, mehr braucht ein Mensch gar nicht zum Leben.“ So lebt es sich mit ihr: Sie hat nur wenig dabei, umso wichtiger, dass sie Dinge mitgenommen hat, die ihr auch nach einem harten Tag in der PR-Agentur in der kalten Fremde das Gefühl von Geborgenheit vermitteln: Etwa die Bettwäsche mit den „Blume doof, Käfer doof, alles doof“-Schafen und das Bild aus dem letzten Kroatienurlaub, auf dem sie und Lucie gleichzeitig Kopfstände am Strand machen. Was WG-internen Nahrungsmittelraub angeht, ist sie eine schlechte Partie: Der Schuhkarton mit den Amicellis ist in ihrem Schrank versteckt, gleich neben dem 20er-Pack Softis mit Herzchenmuster.
6. Zhang Li, der Stipendiat aus Fernost:
Kurzbeschreibung: Ehrgeizige Familie, stressige Kindheit, Jahrgangsbesten-Programm in China, jetzt Studium der Informatik und Elektrotechnik an einer deutschen TU, später Promotion in Oxford oder Yale
Das sucht er: Uninah wäre gut, ist aber kein Muss.
Das bringt er zum Casting mit: unrealistische Preisvorstellungen, aber keine Ansprüche.
Sein Satz: „Meine Hobbies sind Sport, Computer und Kochen.“
So lebt es sich mit ihm:
Eigentlich ist er der angenehmste Mitbewohner von allen. Er hört keine laute Musik und wenn, dann Schubert oder schnulzige Schlager. Es kommen keine Stöhngeräusche aus seinem Zimmer und er bringt keine Leute mit nach Hause. Nachmittags lernt er emsig hinter verschlossenen Türen, nachts geht er diversen Nebenjobs nach. Um seine Eltern zu entlasten, die ihr ganzes Leben darauf gespart haben, ihren einzigen Spross ins Ausland zu schicken. Samstagabend besucht er andere Stipendiaten aus Fernost im Studentenwohnheim. Dort versammeln sie sich in der Stockwerkküche und kochen Hühnerfüße und Schweineherzen ein. Besser als eure Küche daheim voll zu stinken.
Text: xifan-yang - Illustration: Katharina Bitzl