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Und wo schaust du? Eine Typologie der Orte, an denen wir Fußball gucken
1. Das Spiel auf dem Fanfest Vorteil: Aus einer Kommentatoren-Pose heraus kann am nächsten Tag über das Spiel und die Euphorie im Land hervorragend referiert werden. Wer sich auf Fanfesten Spiele anschaut, ist wahrscheinlich noch mehr mittendrin als die Stadion-Elite. Hier passiert das, was die BILD "schwarz-rot-geil" oder "Deutschland, einig Party-Land" nennt. Die Stimmung einer Nation kondensiert auf die Zuschauerränge vor einer Großbildleinwand. Wenn Deutschland wissen will, wie es um das Sommermärchen bestellt ist, schaut es auf die Fanfeste. Bundestrainer Jogi Löw erklärte kurz nach dem Halbfinalspiel, dass er seinen Spielern vor dem Anpfiff Videos von Fanfesten gezeigt hat, der Motivation halber. Nachteil: Fanfest-Besuche müssen durchgeplant sein wie Staatsbesuche. Um nicht vor verschlossenen Türen zu stehen, heißt es Stunden vorher da zu sein. Die Ränge sind vollgestopft wie Weißwürste und mitgebrachte Getränke sind verboten, was bedeutet: Der obligatorische Rausch zum Spiel wird teuer - die Bierpreise in den Fanzonen sprengen selbst dichteste Schmerzgrenzen. Die Dixie-Klos riechen zudem noch schärfer, als man sie in Erinnerung hatte und für Draußen-Pinkeln ist kein Platz. Typischer Satz: Superdeutschlaaaand, Superdeutschlaaaand!
Das Finale daheim Vorteil: Es ist eigentlich egal, wo man hingeht, um öffentlich Fußball zu schauen, es ist mit Stress verbunden. Man findet keinen Platz, zahlt viel zu viel für Bier und hat in etwa den Bewegungsfreiraum einer Flipperkugel. Das alles fällt beim Daheimschauen weg. Im Kühlschrank steht kaltes Bier für 80 Cent die Flasche und die Toilette ist auch nicht weit. Nachteil: Wer beim Mauerfall das Gefühl hatte, ihm könnte draußen das Bier ausgehen und die Menschenmassen auf der Straße könnten auf die Nerven gehen, ist wahrscheinlich daheim geblieben. Im Nachhinein aber könnte das als historischer Fehler angesehen werden. Und so ist das auch mit dem EM-Finale: Gewinnt Deutschland, wird der Abend zu einem „Wo warst du damals, als“-Event. Und auf so eine Frage möchte man nicht mit „daheim“ antworten. Typischer Satz: Ich will gar nicht wissen, was jetzt da draußen abgeht.
Das Finale im Lieblings-Lokal Vorteil: Zum Sieg feiern / Niederlage begießen hat man es nicht so weit. Einfach zum Tresen gehen und Nachschub bestellen. Und nett sind normalerweise auch fast alle. Nachteil: Die üblichen Nasen, die man eh immer trifft, sind auch hier. Und weil es hier normalerweise ausgesprochen unsportlich zugeht, ist die Stimmung auch gemischt. Die einen möchten echt gerne auf dem winzigen Fernseher das Spiel verfolgen. Die anderen sind voll genervt, weil sogar hier die EM übertragen wird. Wer Pech hat, dem setzen sich zwei völlig uninteressierte Schranzen vors Gesicht, die dann sehr laut und sehr angeregt über Beziehungen sprechen. Beschweren darf man sich auch nicht, weil der Besitzer sowieso schon extrem schlechte EM-Laune hat. Wenn man allerdings Glück hat, kommt man übers verunglückte Jubeln endlich mit dem einen netten Jungen ins Gespräch, den man schon seit Jahren anschmachtet. Typischer Satz Irgendwie auch gut, dass die EM jetzt wieder vorbei ist - man kommt ja zu nichts und saufen tut man auch wie nix Gutes. christina-waechter
Das Finale in der coolen Kneipe - als Single Vorteil: Hier kann der junge Städter zwischen 25 und 35 unter Seinesgleichen schauen. Das heißt: keine Prolls, keine zu tussigen, aufgerüschten Mädels. Ansonsten Jungs, die auch bei einem Rückstand von 2:0 nicht ihre Höflichkeits-Standards vergessen. Als Frau darf man sogar dumme Fragen stellen, weil es den Männern auch nicht besser geht. Ein Sportstudent gesteht lauthals, dass er das letzte Deutschlandspiel versäumt hat und jetzt gar nicht mitreden kann; und ist dann immer ehrlich beeindruckt, was die Frauen am Nachbartisch so alles wissen. So ergibt sich der erste Flirt. Alles endet damit, dass einer meint: Lass doch mal Emails austauschen. Tipp für Singles: Wer am Sonntag zuhause schaut, ist selber schuld. Nachteil: Wenn man Hunger hat, kann der Laden nerven. Denn die Küche kann daaaaaaauern. Obwohl die Köchin sich wirklich auch noch bei spannendsten Szenen stoisch ihrem Herd widmet, wartet man ungefähr eine Stunde und geht dann in der Pause lieber schnell vor an die Dönerbude. Typischer Satz: Ich bin übrigens wirklich nur zum Fußballschauen da. Nicht zum Baggern. theresa-steinel
Das Finale zusammen mit Freunden
Vorteil:
In einer Freundesgruppierung von vier bis 15 Leuten ist Fußballschauen durchaus dienlich, weil die jeweils persönliche Regung bezüglich des Spiels ins Gewicht fällt. Wer eine strittige Abseitsentscheidung kundig kommentieren will, kann das tun, ohne sich den Hals aus dem Leibe schreien zu müssen. Die folgende Diskussion ist immer leidlich fruchtbar – auf einer Fanmeile ist sie nicht denkbar, weil immer einer reinrülpst. Zudem ist das Fernsehen im Freundeskreis die genehme Alternative für all jene, denen Public Viewing schon aufgrund einer amtlichen Soziophobie quasi unmöglich ist. Und nochmal gut ist, dass sich die Büro- oder Campus-Diskussionen am folgenden Tag trotzdem mit dem Plural WIR führen lassen und in den Erzählungen somit eine Versicherung mitschwingt: Seht her, ich muss nicht alleine Fußball sehen, es gibt Menschen, die diesen bedeutenden Abend gerne mit mir teilen. Exklusiv, versteht sich.
Nachteil:
Es gibt immer eine oder einen, der im Angesicht einer überschaubaren Zuseherschaft die Deutungshoheit über das Spiel an sich nimmt und als Zweitkommentator fungiert. Möglicherweise falsche Schlüsse über den Spielverlauf, die von eher ahnungslosen Sehern gezogen werden, werden von dieser Person im Nu korrigiert und der Zweitkommentator fordert auch frühzeitig die Einwechslung von Namen, von denen mindestens eine Hälfte der Zuschauergruppe nicht mal irgendwann gehört hat. Dieser Situation ist in der Öffentlichkeit oder in der Kneipe gut zu entkommen, wo man sich rollenden Auges anderen Menschen oder dem Tresen zuwendet. Im privaten Umfeld ist den Dozenten nur schwer zu entrinnen und es stellt sich ein Unmutsvakuum ein, dem nur durch Konsum von Alkoholika zu begegnen ist.
Typischer Satz:
Nein, das war kein Abseits, das hätt’ ich dem Schiri gleich sagen können!
peter-wagner
Text: sascha-chaimowicz - mit Christina Waechter, Theresa Steinel und Peter Wagner; Bilder: afp, dpa, ddp