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Überlebensstrategien für die Weihnachtsfeier

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Kapitel 1: Die Personen Der Praktikant Er macht sich am meisten Gedanken im Vorfeld der Weihnachtsfeier. Und er stellt die richtigen Fragen: Wie viel werden die anderen trinken? Wie viel kann ich trinken? Sein Dilemma: Um 22 Uhr hat sich die Anspannung gelöst. Er sieht den Chef beim dritten Bier und erliegt der Illusion: Ist doch total locker der Laden. Geht der Praktikant jetzt nicht nach Hause, fragen sich die Kollegen am nächsten Morgen: Wer hat eigentlich das Pissoir voll gekotzt? Größte Gefahr: Kurz vor dem Kotzen dem Chef mal sagen, was in dem Laden alles anders gemacht werden müsste.

Der Chef Hierarchien zeigen sich am deutlichsten, wenn es ums Saufen geht. Von einem Chef wird auch im volltrunkenen Zustand Führungsstärke erwartet. Wenn ein Chef nicht saufen kann, bleibt ihm noch der elegante Ausweg: Nach dem dritten Bier nach Hause gehen. Vielleicht vorher nochmals kurz ins Büro, um etwas zu erledigen. Größte Gefahr: Kotzen. Oder mit Tränen in den Augen immer wieder zu sagen: "Ihr seid so tolle Mitarbeiter, ich liebe euch alle." Der Affe, sich zu selbigen machen Die Metamorphose zum Affen findet fast ausschließlich unter starken Alkoholeinfluss statt. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten: - sich übergeben - mehr als einmal Limbo tanzen - zu laut lästern - einen Sockenlauf* mit einer Weihnachtsmannmütze veranstalten Größte Gefahr: sich zu sehr über den Affen lustig zu machen. Die Weihnachtsfeier braucht den Affen wie der Anwalt den Straftäter. Vor allem der neue Mitarbeiter neigt dazu. Der neue Mitarbeiter Er hat ähnliche Probleme wie der Praktikant. Im Unterschied zum ihm ist er aber nicht in einer Woche wieder weg, sondern muss seine eigenen Peinlichkeiten unter um Umständen ein halbes Jahr ausbaden. Größte Gefahr: Limbo tanzen. Auch nicht gut: Gleich am ersten Abend was mit einer der Damen aus der Buchhaltung/Empfang/Sekretariat anfangen. Sockenlauf* sowieso. Die Damen aus der Buchhaltung/Empfang/Sekretariat Sie treten fast immer in Gruppen in Erscheinung und genießen eine gewissen Form von Narrenfreiheit, da sie parallel zur Betriebshierarchie stehen. Sie können die Weihnachtsfeier am besten genießen, in ihrer Ecke wird immer gelacht. Sie sind es, die den Limbotänzer beklatschen. Größte Gefahr: Sich 20 Jahre jünger fühlen, mal für einen Moment Kind, Mann und Haustier vergessen und mit dem süßen Praktikanten rumknutschen. Der alte Mitarbeiter Er hat alles schon gesehen und erlebt. Nach der 13. Weihnachtsfeier erschüttert ihn nichts mehr. Deswegen gefällt er sich am besten in der Rolle des elder statesman und krallt sich Neue Mitarbeiter und Praktikanten, und sagt typische Sätze wie „Über den Laden könnt’ ich Dir Geschichten erzählen…“ Größte Gefahr: Die eigene langjährige Betriebserfahrung in Attraktivität umdeuten und die Praktikantin angraben. Der Kronprinz Er schwebt im Nimbus zwischen Selbstkontrolle und Mitarbeitersolidarität. Er darf, soll sogar noch kumpeln, aber nicht zu sehr. Größte Gefahr: Mit Tränen in den Augen den anderen Mitarbeitern gestehen: "Ich liebe unseren Chef!"


Kapitel 2: Objekte Das letzte Bier Das letzte Bier wird so gegen zwei Uhr getrunken. Die Plastiktischdecken sind längst in Fetzen gerissen und werden nur noch von verschütteten Kerzenwachs zusammengehalten. Größte Gefahr: Zur falschen Flasche greifen, der mit dem Zigarettenstummel.

Der Schnaps Nicht auf der Weihnachtsfeier trinken. Der Schnaps ist der größte Feind der Mittelmäßigkeit. Größte Gefahr: Mehr als einen Schnaps trinken. Der Limbo Es ist 23 Uhr. Es riecht nach Rauch, Schweiß und Glühwein. In der Ecke tanzt jemand Limbo. Nichts sagt mehr über den Zustand einer Party als ein Limbo-Tänzer. Limbo steht für: Sich zum Affen machen, es aber nicht mehr merken, weil alle klatschen und gröhlen. Größte Gefahr: Den Applaus als Aufforderung missdeuten, doch bitte die nächsten zwei Stunden nichts anderes zu tun, als sich die Wirbelsäule zu verbiegen. Das Mikrofon Mittels des Mikrofons hält der sonst nur als allmächtiges Phantom wahrgenommene Betriebsleiter eine Ansprache. Sie genügt in den meisten Fällen den Ansprüchen der Mittelmäßgikeit. Nach der Rede wird das Mikrofon von einer unbekannten Band benutzt, um eine Bossa-Nova-Version von Rudolf, the Rednosed Reindeer zu trällern. Größte Gefahr: das Mikrofon für eigene Zwecke (siehe typische Sätze Was ich schon immer einmal sagen wollte,...) zu missbrauchen.


Kapitel 3: Abstrakta Typische Sätze „Letztes Jahr war das Essen aber besser.“ „Den Rest gibt’s morgen Mittag in der Kantine.“ „Was ich Dir schon immer mal sagen wollte,…“ „Über den Laden kann ich Geschichten erzählen,…“

Das Kollektives Bewusstsein Es speist sich aus Selbstverständnis, Erfolg der Abteilung, Image außerhalb und Geschichten von vergangenen Weihnachtsfeiern. Während ersteres vor allem vom Chef hoch gehalten wird, finden letztere Eingang in die typischen Sätze („Über den Laden könnt ich Dir Geschichten erzählen..., Letztes Jahr war das Essen aber besser...“) Größte Gefahr: Kurz vor dem letzten Bier Kollegen und Chef sagen: „Ich will hier eigentlich nur vorübergehend bleiben, bis ich was Besseres gefunden habe.“ Die Mittelmäßigkeit Bei der Weihnachtsfeier das Erfolgsrezept: Langsam trinken und die anderen Fehler machen lassen. Denn irgendjemand trinkt immer zuviel und macht sich zum Affen. Größte Gefahr: Bis zum letzten Bier zu bleiben, aber den ganzen Abend nur Wasser trinken. Spätestens dann macht sich der vermeintlich Mittelmäßige als Langweiler/Streber/Klemmi verdächtig.


Epilog

Der nächste Morgen: Die Gesichter sind bleich, die Augen rot. Die trockene Büroluft ergibt zusammen mit den Ausdünstungen der Kollegen eine besinnliche Mischung. Waren die Affen in der anderen und nicht in der eigenen Abteilung, gehen die Geschichten des gestrigen Abends in das kollektive Bewusstsein ein, ohne jemanden zu schaden. Das fördert den Zusammenhalt. Außerdem sind bald Ferien. Größte Gefahr: nicht erscheinen. Erklärung * Ein Sockenlauf ist eng verwandt mit dem Phänomen des "Flitzens". Im Unterschied zum Flitzen trägt der Sockenläufer jedoch an entscheidender Stelle einen Socken.

Text: philipp-mattheis - Illustration: Lucille Mietling

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