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Trainspotting Hannover
Er sitzt an einem Küchentisch, vor sich ein Aschenbecher, in der Hand ein glimmender Joint. Wie er heißt, wo er lebt, wessen Küche das ist, in der er gerade sitzt: All das wird nicht verraten. „Was soll ich sagen?“, meint er, und dann beginnt er seine Geschichte zu erzählen: 1973 im Saarland geboren, in Sindelfingen aufgewachsen. Mit 13 der Umzug nach Hannover zum neuen Freund der Mutter, der ihn wissen lässt: Deine Mutter liebe ich, aber du bist unerwünscht. Die neuen Freunde in Hannover sind Kiffer, einer von ihnen - „der Pole“ - hat einen großen Bruder, der mit Heroin dealt. Der Erzähler ist 15, als er das erste Mal „Shore“ raucht. Es sind die späten 80er Jahre, ganz Europa leidet in dieser Zeit unter einer beispiellosen Heroinepidemie.
So beginnt die erste Staffel von „Shore, Stein, Papier“. Shore ist unter Junkies ein Ausdruck für minderwertiges Heroin. Die erste Staffel endet damit, dass der Junge zum ersten Mal in Haft muss, verurteilt für eine ganze Serie von Diebstählen und Einbrüchen. Er ist da gerade 18 und bei einem Konsum von mehreren Gramm Heroin täglich angelangt. Alles was dazwischen liegt wird in über 50 Episoden erzählt, von dem, der es er- bzw. überlebt hat. Immer an irgendeinem Küchentisch sitzend, vor sich ein Aschenbecher und eine Kaffeetasse.
Galgenhumor und ein Sinn für Details: Der namenlose Protagonist von Shore, Stein, Papier.
Sehen kann man das auf Youtube. Genauer gesagt auf Zqnce, einem deutschen Original-Channel, hinter dem die junge Produktionsfirma Redframe steht. 2012 startete Google eine Initiative, mit der das hauseigene Videoportal endgültig als Alternative zum klassischen Fernsehen etabliert werden sollte. Man richtete die erwähnten Original Channels ein, eigens von Youtube finanzierte Kanäle mit exklusiven Inhalten, schwerpunktmäßig zugeschnitten auf die Interessen eines jungen, internet-affinen Publikums. Auch zwölf deutsche Sendeplätze wurden ausgeschrieben, Ende letzten Jahres stellte man sie vor. Viel war da wieder die Rede von der Zukunft des Fernsehens – klickt man sich heute durch das Angebot, macht sich schnell Ernüchterung breit: Comedy, Beauty- und Fitnesstutorials, Trendsportvideos, alberne Vlogs. Eigentlich nur eine geringfügig aufwendiger produzierte Fortführung all der Belanglosigkeiten, die man auf Youtube bereits im Überfluss findet. „Shore, Stein, Papier“ bildet die Ausnahme. Und was für eine! Hat man die erste Staffel verschlungen, macht das mit der Zukunft des Fernsehens plötzlich wieder Sinn.
Ein grandioser Erzähler - der auch in deiner Küche sitzen könnte
Ein Ex-Junkie erzählt die Geschichte seiner Sucht - wenn man das so liest, denkt man schnell an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die ewige Schullektüre, den mahnenden, auf Betroffenheit gebürsteten Klassiker der deutschen Anti-Drogen-Literatur. Man liegt damit sehr falsch. Denn in erster Linie ist „Shore, Stein, Papier“ großartige Unterhaltung. Es ist der trockene Galgenhumor des Erzählers, sein gnadenlos ehrlicher Blick, sein Sinn für skurrile Details und absurde Komik, die einen eher an Irving Welshs „Trainspotting“ denken lassen als an die Tonbandprotokolle der Christiane F. Das Elend der Heroinsucht wird nie verschwiegen oder beschönigt, trotzdem lacht man immer wieder laut auf. Man fiebert mit, man schüttelt den Kopf ob all der irrwitzigen Situationen und Charaktere, von denen man hier hört, und oft nickt man still in sich hinein, weil man, selbst wenn man nie Teil dieser Welt war, spürt, wie wahr und menschlich das alles ist, weil man sich selbst und die eigenen Lebensrealitäten in den Schilderungen gespiegelt findet.
http://www.youtube.com/watch?v=fDzBZawSXRk&list=PLpr-NGsAGodEbDePSO3wivni39lgdLQjW&index=1
Mit dieser Folge begann die Serie im vergangenen Dezember.
Der namenlose Ex-Junkie, dem man hier lauscht, er ist schlicht ein grandioser Erzähler. Allein mit Worten, mit Gestik und Mimik gibt er seinen Geschichten eine Lebendigkeit, Detailfülle und Dramatik, von der so mancher „Tatort“-Regisseur nur träumen kann. Man muss an dieser Stelle den Machern der Serie großes Lob dafür aussprechen, dass sie dem außergewöhnlichen Erzähltalent ihres Protagonisten so viel Raum lassen: Auf jeglichen Schnick-Schnack wird verzichtet, das strenge, reduzierte Setting (Küchentisch, Aschenbecher, Kaffeetasse) liefert den Rahmen, in dem sich die Erzählung entfalten kann. Von Seiten der Produktionsfirma heißt es: „Uns war das Gefühl wichtig: Er könnte auch gerade in deiner Küche sitzen.“
Junkie - ein unheimlich harter Job
Aus dieser Intimität heraus entsteht nach und nach eine vielschichtige, lebendige und enorm detailreiche oral history der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, eine subjektive Fallstudie des grassierenden Heroinproblems, das in jenen Jahren die Innenstädte und U-Bahnstationen Deutschlands überschwemmte. Dass man sie in dieser Genauigkeit und Ausführlichkeit von jemandem geliefert bekommt, der seinen halbes Leben damit zugebracht hat, sich das Hirn mit Drogen zu zersetzen, ist absolut erstaunlich. Die Mechanismen einer Junkieszene und wie sie in den Strukturen einer durchschnittlichen deutschen Großstadt verankert sind, all das wird nachvollziehbar, greifbar. Man bekommt einen Eindruck davon, was es heißt, schwer süchtig zu sein. Was es mit Familien macht, und was für ein unheimlich harter Job das eigentlich ist: Junkie. Immer wieder nötigt es einem geradezu Respekt ab, mit welcher Dreistigkeit und Professionalität, mit welchem Unternehmer- und Erfindungsgeist der Erzähler und seine „Kollegen“ vorgehen, um ihre teure Sucht, ihren unerbittlichen Konsumzwang zu finanzieren. In solchen Momenten scheint das groteske Zerrbild eines völlig entfesselten Turbokapitalismus in den Schilderungen durch. All das und noch viel mehr kann man in diese Serie hineinlesen, wenn man will, und dann ist es auch nicht mehr weit zu modernen Fernsehklassikern wie „The Wire“. Wenn einem das zu hoch gegriffen ist, kann man sich auch einfach nur vorzüglich unterhalten lassen, von den haarsträubenden Eskapaden und dem trockenen Humor, mit dem sie erzählt werden.