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"Sie werden diesen Prozess nicht stoppen"

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Woher nehmen die Leute nur die Zeit? Sie verbreiten ihre konzentrierte Banalität, und das häufig sogar mehrmals am Tag. Doch niemand scheint sich daran zu stören. Das Quasseln über die eigenen Befindlichkeiten ist ein regelrechter Volkssport geworden. Die Rede ist vom Telefon, einem seit dem 19. Jahrhundert bekannten Kommunikationskanal, dessen Wert niemand ernsthaft in Zweifel ziehen würde - obwohl die bei einer gewöhnlichen S-Bahnfahrt belauschten Gesprächsfetzen ausreichen, um festzustellen: Es wird jede Menge Belanglosigkeit über unsere Mobilfunknetze verbreitet.

Doch so wenig man die Bedeutung des Telefons anhand einzelner Gespräche bewerten kann, so wenig erschließt sich der Sinn des Microblogging-Dienstes Twitter, wenn man lediglich einzelne, sogenannte 140 Zeichen lange Tweets anschaut. Tut man dies, landet man schnell bei der Klage über die 'konzertierte Banalität' der 'Internet-Quassel-Plattform' . So jedenfalls war es vor zwei Jahren auch in deutschen Qualitätsmedien zu lesen. Damals wurde Twitter als das nächste große Internet-Ding durchs digitale Dorf getrieben. Doch der 2006 von drei kalifornischen Entwicklern gegründete Dienst ist mehr als ein neuer Hype in der rasenden Webwelt. In diesen Tagen haben die Macher ihre Plattform schrittweise erneuert, verändert. Und amerikanische Medienexperten prognostizieren nach diesem Relaunch, Twitter könnte der digitale Nachrichtenkanal der Zukunft werden. Begonnen hatte es im November 2009 mit der scheinbar eher kosmetischen Anpassung, die Leitfrage von 'Was machst du gerade?' (auf die die ständig wachsende Nutzerschaft in 140 Zeichen antwortet) in 'Was gibt"s Neues?' zu ändern. Mit dem jetzt vorgestellten 'besseren Twitter' kann man über die 140 Zeichen hinaus Bilder und Filme direkt auf twitter.com anzeigen lassen. Das ging bisher nur über einen Verweis auf fremde Anbieter wie Twitpic oder Yfrog. Die Funktionalität, Bilder hochzuladen und zu posten, hat Twitter nun ebenso integriert wie weiterführende Informationen, die Nutzer bisher über externe Angebote wie Seesmic und Tweetdeck einholten.

Diese Weiterentwicklung bringe erstaunliche Folgen für die Ausrichtung von Twitter mit sich, analysiert die Medienwissenschaftlerin Megan Garber vom Nieman Journalism Lab der Universität Harvard. Garber sieht Twitter auf dem Weg zu einem journalistischen Medium. Das Besondere daran: Twitter erstellt selber keine Inhalte, sondern liefert seinen Nutzern lediglich die Infrastruktur, um Leser zu erreichen. Durch die Erweiterung um die Bildebene wird der Dienst, so Garber, von einem Kommunikationsinstrument, mit dem Freunde vor allem Meldung über ihre Befindlichkeit machen, zu einem Informationskanal, der auch für eher passive Nutzer bedeutsam wird, die selber keine Informationen verbreiten wollen. Anders als bei klassischen sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ, setzt Twitter auf einen einseitigen Austausch. Man freundet sich nicht mit jemandem an (was derjenige dann bestätigen müsste), sondern abonniert lediglich dessen Nachrichten (was nicht bestätigt werden muss). In der Twittersprache heißt dies: Man folgt jemandem (follower). Und dieses Folgen ist im Prinzip nichts anderes als der automatisierte Abruf neuer Nachrichten. So wie man zum Beispiel mehrmals am Tag auf ein Nachrichtenportal schaut, um sich zu informieren. Damit man dafür nicht ständig die Adresse eintippen muss (und womöglich dann gar keine Änderungen findet), wurde vor ein paar Jahren der Dienst RSS (Real Simple Syndication) erfunden, der das Vorbeischauen unnötig macht, weil er den Leser genau dann informiert, wenn es neue Informationen gibt. Lange Zeit galt RSS als Zukunft der Nachrichtenübermittlung im Netz. Jetzt bricht die Nutzung dieser Technologie ein. Branchenportale haben Anfang des Monats bereits das Ende von RSS ausgerufen. Der Grund: Immer mehr Menschen sammeln ihre Informationen nicht mehr über RSS-Reader (wie z.B. den populären Reader von Google), sondern lassen sich über Twitter informieren. Denn während es in Deutschland zur Banalität der Twitter-Nutzer, die peinliche Banalitäten verbreiten (sogenannte Oversharer), medienphilosophische Debatten gab, hat sich der Dienst auf einer dritten Ebene (neben der Leitfrage und der jetzt erweiterten Technik) verändert: Dadurch, dass zahlreiche bekannte Menschen, die etwas zu sagen haben (Journalisten, Wissenschaftler, Musiker und auch Stars und Sternchen) Twitter nutzen, um relevante kurze Hinweise zu verbreiten, hat sich ein eigenes Twitter-Universum entwickelt, das mit den belanglosen Alltagsbefindlichkeiten der Oversharer wenig gemein hat. Viele Menschen nutzen den Dienst also mittlerweile nur lesend wie eine kostenfreie Presseschau, die sie auf ihre individuellen Interessen zuschneiden. Sie folgen dann Medien, Journalisten und Experten, die zu den Themen eines bestimmten Fachgebiets schreiben. Und dank der zahlreichen Dienste, die rund um Twitter entstanden sind, können sie auch über das Mobiltelefon auf dem Laufenden bleiben. Das Besondere dabei ist, durch die Funktion des sogenannten Retweetens (bei dem eine Meldung als bedeutsam markiert und deshalb von anderen Nutzern wiederholt wird), tauchen wirklich wichtige Nachrichten häufiger in der Liste der Neuigkeiten auf und gehen nicht im Strom der Meldungen (Timeline) unter. So lässt sich auch die häufig zitierte Behauptung unterfüttern, die einem 15-jährigen Amerikaner zugeschrieben wird, der von sich sagt, keine klassischen Nachrichtenangebote (wie Zeitungen, Fernsehsendungen oder Webseiten) zu nutzen. 'Wenn eine Nachricht wichtig ist, wird sie mich schon erreichen.' Doch damit nicht genug der veränderten Mediennutzung. Auch auf Seiten der Produzenten kündigen sich Verschiebungen an, die beinahe revolutionären Charakter haben können. Als Peter Horrocks Anfang des Jahres seine Arbeit als Director of Global News bei der britischen BBC antrat, schrieb er seinen Mitarbeitern eine interne Mail, in der er Twitter zum festen Bestandteil der journalistischen Arbeit erklärte. Die Folgen der eigenen Veröffentlichungen im sogenannten sozialen Web, also auf Plattformen wie Twitter, zu verfolgen, so Horrocks, sei keineswegs ein Spaß für Technikfreunde. 'Es ist Bestandteil Ihrer Arbeit', schrieb er seinen Journalisten. 'Wenn Sie diesen Grad der Veränderung nicht mögen oder denken, diese neue Art zu arbeiten passe nicht zu Ihnen: Dann suchen Sie sich einen neuen Job, denn Sie werden diesen Prozess nicht stoppen.' Klingt hart. Andererseits ist es wohl nicht härter, als müsste ein Chefredakteur seine Leute überzeugen, endlich auch mal ein Telefon für die Recherche zu benutzen.

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