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Radl-Tagebuch (V): 186 Mückenstiche und ein Freund der NPD
1. 186 Stiche Weiter gen Süden. Eine Stadt namens Amposta, am Delta des Ebros, wo auf weitläufigen Feldern Reis angebaut wird. Wind frischt auf, die grünen Halme wiegen sich leicht. Ein neuer Abend bricht heran. Abseits des Flusses komme ich an einen ruhigen Park. Spielplatz, ein leicht abfallender Hang, ein gutes Stück vom Wasser entfernt. Heute Nacht kein Zeltlager, da in der Nähe Wohnhäuser stehen. Es stellt sich heraus: An Schlaf ist nicht zu denken.
In der Nacht zapfen mich summende Plagegeister an. Fliegendes Gesindel. Ich habe nur die Wahl zwischen dem mehr als zu warmen SaunaSchlafsack oder den Stichen des über mir sirrenden Geschmeißes. Gab es nicht einen FilmNoir? “Sie stachen und sie kratzten ihn?” Ich schlafe keine Minute. Der Morgen an dem ich die Sachen im Zickzacklauf, ständig von einer Wolke der Blutsauger begleitet, zusammenraffe, kommt für mich um halb fünf in der Früh. Die Sonne kriecht empor. Ich zähle. 186 Stiche hat man mir beschert, ohne dass ich einen Blick auf den Rücken werfen kann. Allein auf der linken Hand lächeln mich 32 rote Punkte an. Wie ein Spätpubertierender mit Akneproblem ziehe ich von dannen und kann gar nicht davon lassen, andauernd die hügelige Stirn zu befühlen. Durch die Sonne mit der Bergmeisterin. In einem der nächsten Orte hole ich mit einer ausgiebigen Siesta auf einer Parkbank Schlaf nach. Stationen: Amposta – Mündung des Ebro, Delta (Cataluña)
2. Nachts, eine Hand auf meiner Schulter Castelló, hier ist kein Ort für mich. Hat sich irgendwie hier mitten in den Fels gefressen, diese Stadt, und thront trotzig im Tal. Es ist Abend, ich will Wasser, ich will ruhen. Die Wasserstelle ist von kleinen, circa fünfjährigen Menschen mit Wasserbomben in den Händen in Beschlag genommen, gegenseitig machen sie sich zu Opfern des kühlen Nass, lachen dabei unentwegt. Dem kinderbunten Treiben sehe ich einige Zeit gedankenversunken zu, fasse Wasser und beschliesse, mich in den Stadtpark, der noch ganz wuselig mit Familien, Jugend, Palmen aufwartet, zu Nacht zu betten. So gegen zwei Uhr höre ich merklich Schritte auf mich zu. Ich setze mich im Dämmerlicht des Parks auf, die Hand am Hirschfänger, den ich nachts immer im Schlafsack habe. Eine Gestalt, geschätzte Ende 20, tritt langsam näher. Leise fragt er, ich verstehe erst nicht, dann macht er eindeutige Handbewegungen. Nur zu gut verstehe ich, ich gerate leicht in Rage, sage mehrmals, eindringlich: “Nein! Verdammte Scheisse!” Er schleicht sich. Misstrauisch lege ich mich wieder hin. Er kommt wieder, fragt ob ich französisch spreche. Sein Name ist Juan, er ist Kellner und des Nachts im Park auf der Suche nach, nun ja, Druckausgleich. Er entschuldigt sich für vorhin, und auf die erneute Frage, ob ich nicht doch homosexuell sei, lüge ich ihm etwas von einer Freundin vor, die zu Hause auf mich wartet. Mir ist noch ganz schauderig als er geht und ich spüre noch immer seine Hand auf meiner Schulter. Stationen: Castellón de la Plana (Valencia)
3. Rudi Dutschke in der NPD Weite Brackwasser-Landschaft, 38 Grad an der Küste von Alicante. Es überragt die Stadt ein Kastell, eine Feste. Hier soll meine Schlafstatt sein. Touristen fassen kaum, das man auch mit einem Fahrrad hier hoch kommt. In den Morgenstunden begehe ich die Festungsmauern, genieße den Blick auf das Häusermeer. Fern türmen sich karge Berge auf. Meinen Showdown habe ich, als ich einen gewissen Wolfgang in der Innenstadt treffe. Ich schätze ihn auf 55 Jahre, denke erst, er sei ein Tourist, doch trifft Tippelbruder wohl eher. Er zollt mir Anerkennung für die Reise und schlägt dann ungekonnt einen Haken zum Thema Judentum. Irgendwie kann ich kaum folgen. Nach wenigen Minuten merke ich, das ich erstmals einem waschechten Antisemiten gegenüber stehe, einem Franco-Verehrer und Leser der Deutschen Stimme. Argumentativ gebe ich mein Bestes, um sein Weltbild ins Wanken zu bringen, das er vehement verteidigt. Er wirft mir Thora-Zitate um die Ohren, spricht von Persitern, Amoritern, die da von Juda ausgerottet wurden. Er könne Juden am Gesicht erkennen. Jaja, etwas anderes habe ich auch nicht erwartet...
Alicante. Der Papst Johannes Paul der Zweite wäre ein Jude gewesen, Wolfgangs alter Berliner Vermieter – sowieso ein Jude. Die Nazis hätten sich mit den Juden auf religiöser Ebene auseinandersetzen müssen, hätten einen Dialog führen müssen, um die Thematik des raffgierigen, weltverschwörenden Talmud-Gauners. Auch ich wäre vom jüdischen Geist und linkem Multikulti-Gehabe schon sehr entartet, obwohl er bemerkte, dass doch ein Rest Vernunft in mir zu sein scheine. Spätestens als er dann die These bringt, so wie Horst Mahler heute NPD-Mitglied sei, wäre auch Rudi Dutschke (wenn er denn noch leben würde) heute NPDler. Als er versucht, den Holocaust zu verharmlosen (es hätte nur einige Zehntausend Opfer gegeben), versagt meine Eigenkontrolle. Ich muss lachen und gleichzeitig unentwegt den Kopf schütteln. Irgendwann pflichte ich ihm dann und wann bei, verknappe meine Antworten auf seine Quasi-Monologe mit: "Ja, Ja, alles total verjudet!". Eine Stunde dauert das Wortgefecht, ich gebe ihm die Hand. Was ihn verwundert. "Dem politischen Gegner die Hand reichen?", fragt er mich. Ja, so was könne ich. Ich reiche ihm die Hand als Mensch. In seiner sonnenstichigen geistigen Unwelt, lasse ich ihn dann aber doch lieber allein. Hoffentlich bekomme ich nie solch einen Sonnenstich. Stationen: Sagunto (Valencia) - Valencia (Valencia) - Oliva (Valencia) - Benidorm (Valencia) - Alicante (Valencia)
4. In der Nacht hält ein Wagen Die Landschaft wird immer wüstiger, radel mir das Lied vom Tod, für eine handvoll Kilometer mehr. Italo-Westernkulisse, trockene, heiße Erde. Eine alte Ruine im Sonnenuntergang, Kakteen und Trockenheit drumherum, wird heute meine Wahlbehausung. Fledermäuse machen Jagd, Zikadengeplärre, Sterne.
In der Nacht hält ein Wagen, Sergio gehört die Ruine. Er hatte Licht gesehen. Nach einem kurzem Gespräch holt er Cerveza hervor. Bier zum Nachttrunk. Er warnt vor den Moskitos. "Die holt der Wind!", sage ich. Mein Kilometerstand: 6123. Zustand Bergmeisterin: Heiter bis wolkig, vier Platten und QuietschBummBäng. Mich holt der Wind, mich, die kleinste Radabteilung in Spanien. Stationen: Torrevieja (Valencia) - Cartagena (Murcia)
5. Zwei Algerier, ein Messer. Aguilas. Am Meer. Neben mir, im Café, sitzt ein Pärchen, Emilio und Jenny. Sie ist 60, Malerin, schottisch-italienischen Blutes und war schon immer eher für jüngere Männer. Das grundlegt, warum Emilio Mitte 40 ist. Er ist spanischen Blutes. Man lädt mich ein, Jenny spricht gestochen scharfes Oxfordenglish, Emilio so gut englisch, wie ich spanisch ... un poco! Sie will alles wissen, ich will alles wissen. Jenny und ich sind von den einander erzählten Geschichten ganz gebannt, wir reden drei Stunden. Vom Reisen, kleinen grossen Dingen. So höre ich von einer bildhübschen Frau, die durch Europa reiste. Sie war jung, sie war 18, sehr schön, sie war in einem Pariser Hotel und hatte zwei Tage lang ein Messer an ihrer Kehle. Zwei Algerier ihre Peiniger. Jenny erzählt mit einem Lächeln auf ihren Lippen, erzählt, als wäre es ein Witz. Wohl die einzige Möglichkeit, mit etwas Derartigem fertig zu werden. Wenn man überhaupt je mit sowas fertig wird.
Jenny und Emilio. "Kommst du auf dem Rückweg nochmal vorbei?", fragt Jenny. "Ich möchte dir Claire vorstellen! Dein Alter. She would adore you!" Jennys Kuppelversuchen zum Trotz fahre ich weiter. Ich will wiederkommen und male mir aus, wie wohl diese Claire sein könnte. Station: Águilas (Murcia)
6. Boat People Carboneras, weissgetünchte Sonnenflucht, hell in hell. Auffallend viele afrikanische Männer. Ibrahima aus dem Senegal erzählt, als ich ihn auf der Straße treffe. Er und seine zwei Brüder brauchten drei Jahre, um über Marokko nach Spanien zu gelangen, hier ihr Glück zu suchen. "Boat people", sagt er. Auf ihre Reise angesprochen, murmelt er ständig: "Sehr gefährlich" - wiederholt auch immer den Mißstand ihres Daseins in Spanien: "No papel! - No trabajo!" – “Keine Papiere, keine Arbeit!” Alle drei Brüder waren in ihrer Heimat Seemänner, nur er ist es auch hier. Er hat eine Duldung, somit eine Arbeitserlaubnis. Ibrahima lädt mich ein zu sich nach Haus. Kärglich wohnen die drei Brüder, zwei alte Fernseher laufen zeitgleich. Man schlägt irgendwie den Tag tot. Lesen und Schreiben können sie kaum. Am liebsten würde Ibrahima nach Deutschland gehen. Ich versuche mit meinem spanisch-französisch-englisch-Kauderwelsch zu erklären, dass der gleiche Teufelskreis sie in Deutschland, in der ganzen EU lähmen würde. Man würde sie gleich wieder zurückschicken. Ibu, der Älteste der drei Brüder erzählt von seiner Arbeit, zeichnet mir einen Fisch mit langer Nase. Espada - ein Schwertfisch. Im Nebenraum hat sein jüngerer Bruder den Gebetsteppich ausgebreitet, Nachmittagsgebet. Aus der Bildröhre flimmert: “Der Flug des Phönix.” Absturz im Nirgendwo, Wüste und nur ein Quäntchen Hoffnung. Die Drei sind ganz aufmerksame Filmzuschauer. Zum Abschied sagt Ibu "Wir werden uns wiedersehen!” “Inschallah!” “So Allah will.” In mir denkt sich was. Kein Mensch ist illegal. Wo, wenn nicht hier, träfe dieser Satz zu? Niemand ist illegal, nirgendwo. Stationen: Garrucha (Andalucía) - Carboneras (Andalucía)
7. Mohammed und der Wohncontainer Andalusien. Im Parque Natural de Cabo de Gata. Viele Touristen sind in dieser Ödnis, die doch so einzigartig ist. Aussteiger leben hier, viele kleine Zivilisationsfluchten. Ich fahre durch Los Martinez, ein kleines Dorf im scheinbaren Nirgendwo. Nahe einer Plantage gräbt Mohammed in der Morgensonne die Erde um. Er winkt mir. 28 Jahre alt, studierter Ingenieur, und voller Träume. Das Glück lockte ihn aus seiner Heimat Marokko vor vier Jahren nach Spanien. Keine Arbeit in der Heimat, aber hier. Mittlerweile wohnt er in einem kleinen Wohncontainer als menschlicher Wachhund auf der Plantage. Um neun am Abend hört er auf zu arbeiten, sagt er. Ich werde von ihm eingeladen.
Mohammed. Nach einer großen Schleife, die ich in Richtung des Meeres fahre, kehre ich am Abend zu Mohammed zurück. Gerade ist er fertig geworden mit dem Tageswerk. Ein grimmiger Patron, sein Chef, erwidert meinen Gruss nicht und ist äusserst ungehalten darüber, dass Mohammed es wagt, Besuch zu empfangen. Seinen Patron kann er nicht ausstehen, aber Mohammed braucht die Arbeit, das Geld, dessen Grossteil er an die Familie, seine Eltern, seine drei Brüder und zwei Schwestern in die marokkanische Heimat schickt. Er ist kein Araber, er ist Berber. Mit Englisch und Spanisch reden wir über unser beider Leben. Er ist ein ausgezeichneter Koch, Schafsfleisch in Honigsauce, heisser süsser Tee, aus einem halben Meter Höhe ins Glas gegossen, wie für die arabische Welt üblich. Dazu sehen wir eine DVD mit typischer Berbermusik. Rubensdamen in der traditionellen Berbertracht tanzen, ein Sänger singt melancholisch: "a bie bie....laä tassa....a bie bie!", was auf Amazir, der Berbersprache, soviel wie "Auf Wiedersehen Heimat!" bedeutet. Mohammed hat glasige Augen, zeigt mir Fotos seiner Familie. Er schenkt Tee nach und springt gleich auf, wenn ich auch nur irgendetwas mögen könnte. Vehement besteht er darauf, dass sein Bett heute mein Bett sei, er legt sich in den schmalen Korridor zwischen Bett und Tür. Um sieben beginnt der Arbeitstag für ihn. Ich bekomme noch einige Diram als Souvenir, die Währung seiner Heimat und schenke ihm dafür einige Schweizer Franken sowie ein Kopftuch gegen die Hitze. “Amigos, siempre!", sagt er zum Abschied. Wir beide haben den Arm in die Luft gereckt, winken, bis wir uns nicht mehr sehen. Stationen: Parque Natural de Cabo de Gata – Nijar (Andalucía)
8. Viktor macht alles kaputt Almeria. Grossstadtgewühl. Auf einem Parkplatz treffe ich Antonio mit seinem Sohn Viktor. Antonio ist Lehrer und ausgesprochener Radfreund. Wir sprechen miteinander, Viktor gebärdet sich auffallend. Mit seinen acht Jahren hält Autismus ihn fest umschlungen, wieder und wieder greift er mir an den Bart, ist ganz fasziniert, gebetsmühlenartig wiederholt er spanische Wortfetzen. Antonio bietet an, mir die Stadt zu zeigen.
Antonio.
Blick von der Alcazaba. Wir treffen uns am Plaza de Ayuntamiento, der Platz vor dem Rathaus. Alcazaba, die arabische Festung über der Stadt, ist unser erstes Ziel. Er gibt mir seinen Fotoapparat, ich erkunde den arabischen Garten mit all den kleinen Wasserläufen, den Blumen, hunderte Jahre arabischer Herrschaft haben Andalusien geprägt. In seiner Wohnung ist Carmen, seine Frau, gemeinsam mit einer Ergotherapeutin mit Viktor beschäftigt. Morgen käme die Logopädin und ich freue mich, zu sagen, dass meine Mutter auch in Logopädie mache. Die Wohnung ist spärlich eingerichtet. “Viktor macht alles kaputt”, sagt Antonio. Später fahren wir zusammen in ein Café, essen hay churros con chocolate, eine süsse Sünde. Mein Weg soll mich nach Norden führen, durch die Wüste bei Tabernas, ins Alpujarra, durch die Sierra Nevada. Ein Stück begleitet er mich, “du könntest mein Sohn sein”, sagt er ungläubig, als ich von meinem Vater spreche, der genauso alt wie er sei. Zum Abschied schwärme ich von Thüringen und einem kleinen Dorf namens Berka. “Wenn ihr mal viel Zeit habt”, sage ich und fahre weiter. Station: Almeria (Andalucía)