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Opfer oder Märtyrer? Eine Spurensuche im Web nach Matthias L.
Vor eineinhalb Wochen wurden Markus Beckendahl, dem Betreiber des Blogs netzpolitik.org gut 1,6 Millionen öffentliche Datensätze aus privaten Nutzerprofilen des Online Netzwerkes SchuelerVZ zunächst aus anonymer Quelle zugespielt. Er berichtete auf seinem Blog darüber und machte so den mangelhaften Datenschutz der Plattform publik. Die Medien schrieben sich an dem Skandal die Finger wund und es wurde nach Verantwortlichen gesucht, die sich die Lücke in der Datensicherheit zu Nutzen gemacht hatten, um die vermeintlich geschützten Informationen aus den einzelnen Profilen zu ziehen.
Es war dann schnell die Rede vom 20-jährigen Hobbyprogrammierer Matthias L. aus Erlangen, der ins Licht der Öffentlichkeit geriet, weil er den Betreibern der VZ-Netzwerke bei einem Treffen in ihrer Berliner Geschäftsstelle damit gedroht haben soll, die Daten nach Osteuropa zu verkaufen. Er hatte so angeblich über 80 000 Euro erpressen wollen. Die Firmenmitarbeiter riefen die Polizei und Matthias landete noch am selben Tag, dem 19.10.09, als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft.
Am Samstagnachmittag nun wurde zuerst auf netzpolitik.org und dann auf zahlreichen anderen Blogs die Nachricht von Matthias' Selbstmord publiziert. Er hatte sich in der Nacht zuvor nach elf Tagen in seiner Zelle der JVA Plötzensee in Berlin mit seinem Bettlaken erhängt. Und das ohne, dass es schon öffentlich gewordene Fakten zu dem weiteren Verlauf des Prozesses und dem möglichen Strafmaß gegeben hatte.
Nach Hintergründen zu der Person des jungen Matthias forschte die sich mit den VZ-Netzwerken befassende Seite VZlog in ihrem Artikel "Wer ist der SchuelerVZ Erpresser?" schon vor dessen Freitod. Und hier ist auch von Matthias eigenem Weblog die Rede, das mittlerweile aber nicht mehr verfügbar ist. Auf VZlog gibt es jedoch noch mehrere Auszüge aus seinen dort veröffentlichten Postings. So findet man unter anderem genaue Anleitungen und Erklärungen zu dem von ihm selbstentwickelten "Crawler" , den er in einem Video demonstriert. Ein Crawler ist eine Suchrobotersoftware, wie auch Google sie beispielsweise durchs Netz schickt, um nach Inhalten zu recherchieren.
In diesem Fall half Matthias seine Software, die SchuelerVZ Profile auf geschützte Angaben der einzelnen registrierten Nutzer zu durchforsten.
Interessant wird es bei den eigens formulierten Angaben zu seiner Person, beziehungsweise seiner Online Identität unter dem Namen "exit". Über diese war auf seiner Webseite zu lesen:
‚‚ All about me.. or all about ‘exit’
His name is Matthew, he is 20 years old and 1,88m tall. He lives in a little town near Nuernberg in Germany and has a lot of friends everywhere in Germany! Party and do some shit with friends is the most important thing for him! So if you have any questions, ask he doesn’t bite ;) “
Mehr über ‚ exit erfährt man, wenn man etwas tiefer in die Welten der im Netz herumfrickelnden Programmierern vordringt. So liest man auf dem Blog eines anderen Programmierers namens "sp3x" in einem längeren Artikel über dessen Begegnung mit Matthias alias‚ exit’, den er offenbar als einen hilfsbereiten Menschen gekannt und mit ihm öfter gemeinsam über Probleme gegrübelt und sich weitergeholfen habe, „wenn man mal auf der Stelle trat“. Auf der anderen Seite sei er jedoch auch hin und wieder als eine Person aufgetreten „der man nicht vertrauen konnte, eine Person, die einen hintergehen konnte um eigene Vorteile daraus zu schöpfen. Jemand, der permanent die Aufmerksamkeit anderer suchte“.
Sp3x scheint Matthias zwar nicht ohne Misstrauen zu begegnen, ruft jedoch dazu auf, ihn auch nicht voreilig zu verurteilen. Denn Matthias sei
„ohne Frage ein begabter Programmierer, der seine Zukunft noch vor sich hatte“ gewesen und daher mag sp3x auch nicht ganz glauben, „dass er sich das Leben aus freien Stücken nahm. Die ganze Geschichte die von den Medien, News-Portalen und nicht zu Letzt den VZ-Netzwerken hochgespielt wurde, stinkt bis zum Himmel.“
Sp3x legt viel Wert auf einen kritischen Blick in Richtung Berichterstattung der Nachrichtenplattform golem.de, „die durch seine Angehörigkeit zu dem VZNet und sein extrem subjektives Berichten und festlegen von Tatsachen, lediglich Meinungsmache und Selbstjustiz betrieben. Ohne das der mutmaßliche Täter je angeklagt war stellt Golem fest das er der Täter ist.“ Und appelliert zum Schluss an seine Leser:
„Leute lasst euch nicht von den Nachrichten oder den News-Portalen beeinflussen. Schaltet euer Hirn ein und bildet euch eine eigene Meinung.“
Der Radiosender on3-radio hat eine sehr informative Zusammenfassung der wohl am häufigsten gestellten Fragen um den Selbstmord erstellt. Hier ist zu erfahren, was nach der Verhaftung passiert sein soll und welches Strafmaß der junge Erlanger zu erwarten gehabt hätte. Er soll bereits aufgrund eines Drogendelikts vorbestraft gewesen sein, und damals nach Erwachsenenstrafrecht behandelt worden seien. Wäre dies wieder geschehen, hätte laut on3 folgendes für Matthias gegolten:
„Nach Erwachsenenstrafrecht drohen einem Erpesser bis zu fünf Jahre Haft. Strafmildernd wirkt sich aus, wenn die Erpressung nur ein Versuch bleibt, was in diesem Fall wahrscheinlich gewesen wäre.“
Es findet sich auf der zitierten Radioseite auch ein Auszug aus dem von
Rechtsanwalt Udo Vetter betriebenen Knastblog, auf dem Matthias von seiner U-Haft in Erlangen erzählt:
"Es gibt viele Horrorstorys über den Knast. Keine einzige, die ich gehört habe, ist wahr. Die Leute, mit denen ich auf dem Gang war, waren alle recht gechillt und man konnte wirklich gut mit ihnen reden. Ich hab keinen einzigen erlebt in den zwei Wochen, der irgendwie aggressiv oder whatever war."
Viele Fragen nach den Gründen des Selbstmordfalles bleiben offen, wie
Udo Vetter, der neben Knastblog auch noch das bekannte Lawblog betreibt, formuliert. Seiner Einschätzung nach hätte durchaus die Chance bestanden, dass der Junge bis zu seinem Prozess Haftverschonung bekommen hätte. Auch bleibt es ein Rätsel, warum Matthias sich ganz und gar nicht wie ein „perfekter Verbrecher“ verhalten habe, „sondern bereits vor dem angeblichen Erpressungsversuch seine Methoden offengelegt“ habe,
„außerdem war er geständig“.
In vielen Foren wird derzeit darüber diskutiert, inwiefern Matthias als Opfer oder als Märtyrer angesehen werden kann. Ein bei Twitter Trends sehr häufig zitierter Link führt zu dem etwas abstrakt geschriebenen Artikel „Wau Holland“ des Nutzers ThinkSmart im
ThinkSmart gibt in seinem Kommentar an, dass „die deutsche Justizfabrik gerade eine große Nachfrage mit Kinderschändern und Datenklauern“ habe, „also wird geliefert, was von Oben bestellt wird. An dieser Stelle interessiert mich nur noch die Lobbyistische Verflechtung der SchülerVZ Betreiber.“ Er stellt Matthias als unschuldigen, pupertären Naivling dar, der lediglich eine Idee in die Öffentlichkeit gebracht habe, die sowieso schon lange existiere und auch genutzt werde. Um deutlich zu machen, wie irrelevant die Drohung des Jungen eigentlich sei führt er folgende fiktive Szene an:
„Hallo China, willste ne CD mit 15 Mio. Schülern aus Deutschland?“
„Nee du, dauert 14 Tage mit der Post, gehe ins nächste Internet Cafe
und lass selbst den Browser drüber laufen, geht schneller.“
Ein weiterer im Heise Forum geposteter Artikel bietet Ansichten zur medialen Darstellung des Falls. Nutzer Gotem räumt in seinem Kommentar "Es gibt hier keinen Datenklau" mit der Begrifflichkeit des
"Datenklaus“ auf. So wird zur Zeit nämlich sehr gerne beschrieben, was bei SchuelerVZ vorgefallen ist. Realistisch betrachtet sei das aber „Unsinn“, da „Die Daten öffentlich einsehbar“ waren „und zwar von jedem der bei SchülerVZ angemeldet ist“. Und bei über 6 Millionen angemeldeten Nutzern und „Zugangshürden die niedriger sind als ein Gang zum Rathaus“ könne man durchaus von Öffentlichkeit reden, rechtfertigt Gotem seine Formulierung und ist überzeugt davon, dass Matthias also nichts Schlimmeres getan habe, als sich an einer öffentlichen Datenbank zu bedienen. Und das sei so wie „beispielsweise ein Telefonbuch abzuscannen, oder als es google tut wenn es tagtäglich irgendwelche webseiten abcrawlt“
Gotem kritisiert wie sp3x, dass man nur die eine Seite der Geschichte zu beleuchten scheint, nämlich die von SchuelerVZ Und da lassen sich dann seiner Meinung nach „trefflichVerschwörungstheorien entwerfen“. Er spricht von der Möglichkeit, „dass die "Erpressung" um 80.000€ von SchülerVZ erfunden wurde“ oder eben auf einem vorsätzlichen Missverständnis beruhe. Wieso sollte das abwegig sein, wenn man mal den immensen Druck betrachte, der jetzt auf den VZ-Betreibern laste. Und da würde es ja nur der Sache dienen, „wenn aus dem harmlosen Naivling plötzlich ein gemeiner Erpresser wird.“
Ebenfalls spricht er die Absurdität an, dass der Junge erst im Internet öffentlich Werbung für sein Programm betrieb und sich dann auch noch persönlich in den Räumen der VZ-Betreiber zeigte, um diese erpressen zu wollen. Für wahrscheinlicher hält er die Möglichkeit, dass bei dem gemeinsamen Treffen keine Erpressung stattfand, sondern „nur über den Wert der Daten spekuliert wurde“. Und selbst wenn er tatsächlich eine Erpressungssumme gefordert hätte, fragt sich Gotem doch, ob „man so jemanden wirklich ernstnehmen kann und muss“.
Aufgrund des naiven Handelns des Jungen hätten die Justiz Jugendstrafrecht gelten lassen und es wäre bloß zu einer Bewährungsstrafe gekommen. Da ist er sich sicher.