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Noise-Gitarren und Bier auf dem Teppich: Eindrücke vom ATP-Festival
Ihre weichen Züge und das milde Lächeln eint die Schwestern jetzt, da sie allmählich zu den betagteren Gesichtern des Genres zählen und Heroin sie längst nicht mehr entzweit. Angesichts ihres jüngsten Streichs haben die Endvierziger-Zwillinge Kim und Kelley Deal, die beiden Frontdamen der Breeders, dann aber auch wirklich keinen Grund für finstere Mienen. Hat man doch nicht alle Tage die Chance, 40 seiner Lieblingsbands aus aller Welt an einem Ort zu versammeln und mit ihnen drei Tage lang ein gleichermaßen zeitgemäßes wie zeitloses Indie-Festival zu zelebrieren.
Seit dem ersten "All Tomorrows Parties"-Festival vor zehn Jahren gehört es zum Konzept, dass eine Band mit gewissem Renommee abseits des Mainstreams das Line-Up dazu kuratiert. Nick Cave, Sonic Youth, Vincent Gallo, Dinosaur Jr., My Bloody Valentine und Portishead kamen neben vielen anderen Größen bereits zum Zug. Nun also die Breeders. Deren familiäre Austrahlung passt eigentlich zunächst ganz gut zum Festivalort, einem Holiday Camp in der kleinen westenglischen Küstenstadt Minehead, mit dem für die Insel typischen Charme des Working-Class-Entertainments.
Der erste Eindruck verstört den Besucher dann aber doch. Steht da nicht ein Burger King gleich neben der von einem Riesenpavillon überdachten Bühne, auf der auch die Breeders am zweiten Tag auftreten sollen? Klimpern unterm selben Dach nicht unaufhörlich hunderte Spielautomaten in direkter Nachbarschaft zu Pool-Tischen und Bowling-Bahnen? Von wegen Independent im Sinne von nichtkommerziell. Und was soll überhaupt der bunte Teppichboden überall? Darf man hier kein Bier verschütten? Aber den für alle anderen englischen Festivals obligatorischen Matsch vermisst man nicht lange. Da lässt man sich lieber an der nächsten Theke vom routinierten Hauspersonal ein Guinness in die Hand drücken und von der Songwriter-Entdeckung Bon Iver eine sanfte musikalische Einführung verpassen. Anspruchsvolle Harmonien im einmaligen Wechsel mit nicht enden wollenden Noise-Wänden, dafür wird das ATP verehrt. Und der Teppich auf dem Boden ist, seien wir ehrlich, zwar etwas dekadent für ein Rockfestival aber tausendmal flauschiger als die üblichen Hallenböden.
Ein paar Schnappschüsse vom Festival:
Bildergalerie kann leider nicht angezeigt werden.
Spätestens am zweiten Tag kommt man ohnehin zu kaum etwas anderem mehr als Konzerte. Allein auf der Bühne unter dem Pavillon reihen sich die smarten Youngsters Blood Red Shoes, das schrille, mit Luftballons bewaffnete, brasilianische Kunst-Rock-Kollektiv CSS (steht übersetzt für "Ich bin müde, sexy zu sein"), die schottischen Powerpop-Veteranen Teenage Fanclub und die Kuratoren-Band aneinander. Selig liegen sich alte und junge Fans in den Armen als die mütterlichen Deal-Schwestern ihren Überhit "Canonball" in die Runde schmettern. Vielleicht der berechenbarste Höhepunkt dieses ATP-Festivals, doch wen stört das schon angesichts dieser einmaligen Zusammenkunft an Bands, die so viel Platz für Entdeckungen lässt.
Einige nutzen den Umstand, dass der "Canonball"-Moment bereits nach Zweidritteln des Konzertes erlebt ist, und wandern die Stufen hoch zur Centre-Stage, wo Trip-Hopper Tricky aus dem nur 60 Meilen entfernten Bristol zu diesem Zeitpunkt ein Parallelkonzert startet, im gleichen Sportdress in dem der fürs Dauerkiffen berüchtigte Musiker nachmittags noch ein ein paar lockere Runden Box-Training absolviert hatte. In der Mitte des Raumes fühlt man die Sprungkraft des Publikums so, als stünde dem Boden gleich eine Wölbung bis ins Erdgeschoß bevor. Etwas ruhigeren Gemütern bietet der Saal aber mehr als genug Ausweichflächen, teils sogar weiträumig bestuhlt und dank unterschiedlicher Ebenen mit bester Sicht zur Bühne. Was für ein Luxus auf einem kräftezehrenden Festival.
Natürlich bekommt man die Gastgeber des Festivals nicht ausschließlich bei ihrem Auftritt zu Gesicht. Vor allem jüngeren Bands erweisen die Breeders gern mal die Ehre und supporten sie für einen Song auf der Bühne. Bei X, die nach 30-jährigem Bestehen immer noch gut und gern als Geheimtipp durchgehen, begnügt sich Kelley Deal schließlich damit, auf die Bühne zu rennen, um sich breit grinsend die Setlist zu krallen.
Eine andere Art des Wiedersehens gibt es mit der Band der Produzentenlegende Steve Albini: Shellac spielen nicht nur an zwei Tagen hintereinander jeweils eine ihrer berüchtigt brachialen und lauten Shows. Für Veteranen gehören die Amerikaner vielmehr fast ebenso zwingend zu dieser Festival-Reihe dazu, wie eine feste Unterkunft samt Bad und Fernseher. Shellac spielten in den vergangenen zehn Jahren weltweit auf Dutzenden ATPs und machten sich dafür überall sonst rar.
Mit einem leichten Ohrensausen und doch spürbar verkatert muss der Rollkoffer nach drei Tagen wieder bepackt werden und dann ist sie auch schon da, diese typische Festival-Melancholie. Ewig könnte man doch jetzt so weitermachen. Ein kleines Bier zum Frühstück und ab vor eine Bühne. Selbst das inzwischen so vertraute Familienpark-Ambiente fehlt einem schon, als man das idyllische Minehead noch gar nicht verlassen hat und am langgezogenen Sandstrand Möwen beobachtet. Was da hilft? Wohl nur Wiederkommen.
Text: bernd-skischally - Fotos: B. Skischally