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Nach dem Abschluss ist vor dem Leben: die fünf Nach-dem-Abi-Typen
Der Pilger
Das macht er Pilgern oder sehr lang und weit Laufen oder Radfahren Das ist er Seine Fingernägel sind lang und mit einem Klecks Kettenfett versetzt. Er war der Praktische im Jahrgang, riecht stets nach verdunstendem Herrenschweiß und kann in seiner Werkstatt alles richten, was Menschenhände montiert haben. Er ist der Gutmensch unter den hormon- und karrierefixierten Klassenkameraden und beileibe der Zäheste. Nicht nur, dass er schon in der sechsten Klasse seine Spiderman-Motivshirts minimum sieben Tage spazieren trug; körperliches Gedings an sich, also namentlich das Kümmern um Kleidung, Zahnseide oder den ersten Sex ist ihm fremd. Und weil er es auch ist, der vom Laufen nie Blasen bekommt, macht er sich nach dem Abi samt Trekkingrad auf den Weg nach Kappadokien. Da gibt es Börek (mag er) und Joghurt (liebt er) und unterwegs laufen ihm gewiss nicht die verhassten Web 2.0-Hänsler aus dem Jahrgang über den Weg. Erst dachte er sogar, er könnte direktemang den legendären Autoput mit seinem Cannondale runterrauschen. Den Gedanken hat er aber dann doch verworfen, als er von dem Chinesen las, der sich neulich in München auf die Autobahn verirrt hatte, weil er zur U-Bahn wollte. Schließlich kennt unser Pilger nicht die U-Bahn-Zeichen fremder Länder und radelt also ausnahmslos Landstraße und lässt sich von rumänischen Dorfschustern die Reifen flicken und von albanischen Monsterschmieden die Lenkstange richten (die bei einem Sturz ins 800 Meter tiefe Monstrovtal hops ging). Tja, das sind so die Sachen, die er auf seinem Selbsterfahrungstrip erlebt. Das Blöde nur: Er wird nie jemandem was davon erzählen. Weil, bei allem Schweiß: Er ist von sympathischer Schüchternheit. Nur ein Kühlschrankmagnet vom Bosporus wird ihn dereinst an das Größte all seiner Abenteuer erinnern. Wieder zu Hause wird er Beamter, wie es ihm einst sein Vater befahl. Regierungsbezirk Schwaben. Der Rest sind Träume. Von Börek und gerechtem Herrenschweiss. Das sagt er in zehn Jahren über diese Zeit „Ich hätt’ den Autoput nehmen sollen.“
Der Dude
Das macht er Im Elternhaus rumkleben Das ist er Der Dude unter den Abiturienten kratzt viel Sack, obwohl es dort nicht juckt, spuckt gern aus, obwohl er nicht muss und drückt jeden Morgen sein schweißnass geschlafenes Gesicht in das bereits vor Faulheit und sommerlicher Gewitterhitze vergehendes Kopfkissen. Was seine Lebensplanung betrifft, haben die seit erfolgter Zeugnisverleihung de facto entmachteten Eltern keine Handhabe mehr. Sie können nur noch an den Menschen im Dude appellieren. „Mach halt mal irgendwas. Irgendwas!“, sagen sie verzweiflungssatt demjenigen, dem das Leben zur Matratze geworden ist: Er rollt sich mal ins eine, mal ins andere Eck. Auf Betriebstemperatur kommt der Dude selten, was den nahenden wirtschaftlichen Aufschwung eher bremst als fördert. Zukunftsvorstellungen im näheren Sinne sind ihm unangenehm wie Schnaken und die einzige moralische Leitplanke steht bei ihm im virtuellen Raum: Seine Kumpels in der Gilde beim Online-Battle alleine zu lassen, das sieht er nicht ein. Korrekterweise versumpft derweil sein Gestüb’, worin Gutmeinende noch ein bisschen Sinn erkennen mögen. (Aus gutem Humus kann viel wachsen.) Die Schlechtmeinenden (darunter viele Familienmitglieder) beobachten mit grobem Argwohn den Niedergang des eigenen Bluts. So beginnt und verläuft ein quälendes Halbjahr, in dem beide Parteien, Eltern wie Kind, mit Verblüffen die Verkommenheitsstadien betrachten, durch die ein Mensch laufen kann. Fetthaar, Langhaar, Bart, Sandmännchen in den Augen-Ecken, Maulmuffel. Erst der nahende Zivildienst bringt Schatten über diesen Lebensentwurf wie einst das brummige Roland Emmerich-Raumschiff über Washington. Blitzbumm macht es und ein gravitätischer Rotkreuz-Sanitäter formt den Dude wie selbstverständlich zu einem Signalmast des Wohlfahrtsstaats. Der Dude selbst erkennt also mal eine Ader an sich, und die ist sozial. Derweil kärchert die Mama vom Dude erleichtert aber angewidert das Kinderzimmer. Das sagt er in zehn Jahren über diese Zeit „Siehste. Damals war bei mir auch nicht viel mehr los.“
Der Lebensläufer
Das macht er Schnell ein Praktikum Das ist er Wenn er während des Bildungsstreiks im Juni eines gelernt hat, dann, dass die Schule der letzte umhegte Raum der Welt ist. Vergleichbar einem Kätzchenreservat, in dem jeden Morgen Ronald McDonald vorbeikommt und Spaß und Burger bringt und allen die Schulter klopft. Der Rest der Welt ist Wildbahn und „Kampf um deinen Platz in der Gesellschaft“. Unser Lebensläufer hat schon in der Elften Hans-Olaf Henkel-Bücher exzerpiert und ist der festen Überzeugung, dass ein Mann erst mit dem Eintrag ins Handelsregister zum Menschen wird. Proaktivität ist deshalb sein Lebenskonzept und nicht nur dumpfer Terminus. Das Abitur wird von ihm nicht als Auszeichnung verstanden oder als Kopfkissen, auf dem man ein paar erholsame Monate lang seinen mürben Frontalunterrichtsschädel betten kann. Vielmehr ist es für ihn die Beurkundung der Stunde Null. Erfüllt von Heimweh und Schaffensdrang sitzt er ein letztes Mal im Raum der Schülermitverwaltung, blickt auf sein Jugendlebenswerk zurück und sieht doch nur einen noch leeren Lebenslauf vor sich. Deswegen schreibt er im Akkord Bewerbungen an alle Namen in Dax und Tec-Dax. Er träumt von einer Schlüsselfunktion im Projekt Desertec oder im Statistischen Bundesamt. Weil die Zeit aber drängt und viele börsennotierte Unternehmen ihr Herz für Praktikanten wegen der Krise neben den faulen Papieren verstauen, bleibt dem Lebensläufer nichts anderes als in der Abteilung des hauseigenen Vaters zu jobben. Bei Hoch- und Tiefbau „Fips Brögl“ ist zwar von der globalisierten und durchtrainierten Hochhaus-Eleganz a la Dubai nix zu spüren, aber sei's drum. Also sortiert der Lebensläufer die Kurzarbeitsunterlagen der firmeneigenen Mitarbeiter nach dem Alphabet und hat endlich eine Aufgabe gefunden. So zumindest steht es später im Lebenslauf, der dereinst die Personalchefs der Strategischen Unternehmensberatungen rot im Gesicht macht: „30. Juni 2009: Zeugnisübergabe. 1. Juli bis 15. Oktober 2009: Traineeprogramm Fips Brögl HochTief. Erste Managementfunktionen.“ Tja, wo niemand mehr ist, ist gut managen. Das sagt er in zehn Jahren über diese Zeit "Den Brögl gibt's jetzt auch nicht mehr."
Der Schnellreisende
Das macht er 12 Kontinente in zwölf Monaten Das ist er Seine Schwester hätte ihm mal besser nicht die „1000 Plätze, die du sehen musst bevor auf diesem Erdball das Licht ausgeht“ schenken sollen. Gerade ihm, dem alten Zwangshandler und Perfektionisten. Sein Leben funktioniert nur annähernd propper, wenn er stets einen Haken hinter den Dingen machen kann. Deswegen gehört er zu einem neuen Typus des Reisenden, der von seinem Bruder älteren Jahrgangs gesehen hat, wie man es nicht machen soll. Der Bruder war damals, irgendwann in den Neunzigern, ein paar Gap-Year-Tage zu lang im dreckigen aber indischen Ufersand liegen geblieben und hatte deswegen a) erst die Anmeldung für das Winter- und dann auch noch für das Sommersemester verwirkt und sich b) eine herbe Delle im Lebenslauf zugezogen. Doch zurück zu unserem Zwangshandler. Trotz aller Reiselust und trotz erstaunlich wilder Vorbilder (Alexander Supertramp, Rainer Langhans, Hape Kerkeling) zieht er, der Reisende des neuen Typs, seinem wild gedachten aber bürokratisch veranstalteten Gap-Year einen roten Faden ein. Kein Quartal soll verschenkt werden, weshalb die Reisemonate eher dem Rekordversuch eines Richard Branson gleichen. Vier Monate, vier Kontinente lautet die hektische Devise. Erstes Quartal Kibbuz, zweites Quartal Taj Mahal, drittes Quartal Auckland und viertes Quartal Bolivien. Nordamerika soll erst während der Famulatur in Harvard nach dem achten medizinischen Semester erkundet werden. Und also travelled und worked er nach der Stechuhr, checked rechtzeitig das Fortbestehen der gebuchten Fluglinien. Derweil bloggt er in einer eigens eingerichteten Wordpress-Filiale das altbekannte Zeug von gastfreundlichen aber diebischen Einheimischen und entschuldigt sich, dass er drei Tage wegen „Montezumas Rache“ nicht bloggen konnte. Außerdem klaut er an jedem Ort den Einheimischen die Arbeit. Und weil er so nett ist, die Monate vor allem mit Reisenden aus Italien, Australien, Amerika und Deutschland zu verbringen, empfangen seine Eltern nach der Auszeit den gleichen Depp an der Haustür, den sie entlassen haben. Von der Welt hat er dann wohl viel gesehen, aber nix verstanden. Dafür ist die neu angelegte Facebook-Freundesbox mit internationalen Namen dekoriert. Und das ist es, was das Reisen so wertvoll macht: das „neue Leute kennenlernen“. Das sagt er in zehn Jahren über diese Zeit „Rügen soll angeblich auch schön sein.“
Der Freiwillige
Das macht er
FSJ, FÖJ´
Das ist er
Wer die erste Richtungsentscheidung des Lebens zu einer guten machen will, geht ins FÖJ oder ins FSJ. Der Freiwillige wird mit seiner Wahl hoch geachtet und bei allen deutschen Tagen des Ehrenamtes würdevoll gemeint. Ein Filetstück der Gesellschaft. Voll Helfer- und Entdeckerdrang knuddelt er gleichsam Kinder und Kröten und lernt allerhand über Walderlebnispfade und Inkontinenz. Ja, so ist das Leben sagt er abends zu sich selbst auf dem Fahrrad beim Heimfahren ins elterliche Gebälk. „So ist das wahre Leben.“ Singts und pfeift ein Lied. Eltern, Großeltern und Freundeskreise wussten es eh schon vorher: Dieser Mensch ist rein menschlich astreiner Durchschnitt und außerdem supernett! Im SJ oder ÖJ gibt er nun freiwillig zurück, was er von seinen bis heute nicht geschiedenen Eltern bekommen zu haben meint. Die Rede ist von Liebe, Verstand und Geduld. Irgendwann hat er dann alles zurückgegeben, was in seinem Herzen war, hat also auch die Restbestände an Mitmenschlichkeit ausgeräumt, da merkt er, dass er nicht in gleichem Maße zurückbekommt. Dass da das Feedback fehlt. Dass da viel Undankbarkeit im Spiel ist. Und überhaupt reagieren Kröten und Kinder manchmal ungehalten auf zuviel Liebe. Also merkt der Freiwillige, dass Hilfswille allein noch keinen Helfer macht, bricht nach acht Monaten ab und begibt sich in ein vermeintlich krisenresistentes Studium. Volkswirtschaftslehre. Denn in der Marktwirtschaft, lernt er, bekommt man was zurück, wenn man was hergibt.
Das sagt er in zehn Jahren über diese Zeit
„War ne supergute Erfahrung. War dann aber auch gut.“
Text: peter-wagner - Illustrationen: Katharina Bitzl