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Mut zum freien Fall
Angst. Einen Moment lang hat Anna Angst. Sie fühlt sich richtig klein. Rundherum nur raue Felsen, die kleine Frau steht ganz vorne auf einem großen Brocken. Vor ihr geht es direkt in die Tiefe, 15 Meter, kein Geländer schützt sie. Jetzt gilt es. Sie konzentriert sich, geht entschlossen direkt an den Rand – und springt. Die Angst ist wie weggeblasen, sie rast mit 80 Kilometern pro Stunde in Richtung Wasser, dreht ihre Pirouetten. „Ich fühle mich wie ein Vogel, total frei, der Wind prickelt. Die ganze Angst ist weg. Einfach wunderbar. Es ist wie ein Rausch.“ Sie trifft hart auf der Wasseroberfläche auf, taucht ein. Geschafft. Wenn Anna Bader von einem ihrer Klippensprünge erzählt, gerät sie ins Schwärmen. „Der Moment, in dem ich ins Wasser eintauche, ist unbeschreiblich“, sagt die Studentin und schließt die Augen. „Das ist so überragend, alle Anspannung löst sich. Ich fühle mich dann wie eine Königin, alles um mich herum ist vergessen. Es ist einfach Wahnsinn!“ Die 24-Jährige lacht. Die Studentin aus Mainz stürzt sich leidenschaftlich gerne von hohen Felsen. Und das sehr erfolgreich: Sie ist amtierende Europameisterin im Klippenspringen. Bei der EM am Wochenende in Bignasco/Cavergno in der Schweiz will sie ihren Titel verteidigen. Sportverrückt war Anna schon immer. Kein Wunder bei der Familie: Ihre Mutter nahm als Turnerin zwei Mal an Olympischen Spielen teil. Auch Anna ist zunächst begeisterte Turnerin und springt in der Nationalmannschaft der Wasserspringer vom Zehn-Meter-Turm, ehe sie mit 17 Jahren als Touristin im Urlaub in Jamaika eine Show-Vorführung von Klippenspringern beobachtet. Furchtlos wagt sich Anna auf den Felsen und springt aus 13 Metern Höhe. „Es war wirklich ein tolles Gefühl. Die jamaikanischen Show-Springer haben mich gelobt und mir gratuliert. Ein unvergesslicher Augenblick.“
Anna
Anna ist ohnehin eine außergewöhnlich mutige Frau. Sie liebt den freien Fall. Die Studentin ist klein gewachsen, wirkt zierlich, hat aber eine überraschend tiefe Stimme. Während des Gesprächs gestikuliert sie unaufhörlich mit den Händen, erzählt begeistert und lacht viel. Ob sie eine Draufgängerin ist? Anna lacht. „Ich sag mal so: Ich suche kein Risiko, aber wenn eins kommt, na ja, dann sag ich auch nicht nein. Ich würde nie zu Hause bleiben, um sicher zu gehen, dass mir nichts passiert. Ich liebe meine Freiheit. Wenn man Risiken eingeht, wird man immer belohnt.“
Vor drei Jahren ging es in Sachen Klippenspringen dann richtig los. Alain, ein Freund und selbst begeisterter Springer, nimmt sie mit in die Schweiz. Dort springt Anna wieder von einer Klippe – und ist vollauf begeistert. Wenige Tage später findet die Europameisterschaft statt. Anna meldet sich an - und gewinnt direkt den Titel. Außer ihr wagt nur eine Konkurrentin den Sprung von dem hohen Felsen.
Jetzt ist Anna richtig begeistert. Aus ihrem Umfeld habe sie keiner vor ihrer neuen Leidenschaft gewarnt, erzählt die Mainzerin: „Meine Familie fand das überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil, meine Verwandten sind selbst von dem Sport fasziniert.“ Sogar ihre Oma kam mit zu ihrer zweiten EM im letzten Jahr und feuerte sie begeistert an. Anna konnte ihren Titel verteidigen.
Die starken Emotionen bei einem Sprung sind immer wieder der Kick für die Mainzerin: „Wenn ich auf den Felsen klettere, bin ich sehr angespannt. Da will ich mit niemandem reden, sondern mich einfach nur konzentrieren.“ Im Kopf gehe sie den Sprung Schritt für Schritt durch, stelle sich Salti und Schrauben genau vor, berichtet die 24-Jährige. „Wenn ich dann ein gutes Gefühl habe, springe ich. Wenn nicht, klettere ich wieder runter und lass es.“ Ein paar Mal sei das schon vorgekommen. „Es ist wichtig, dass ich mir den Bewegungsablauf genau vorstellen kann. Ich darf nicht leichtsinnig sein. Mut ist etwas vollkommen anderes als Leichtsinn.“
Und doch: Die Gefahr bleibt. Vor zwei Jahren passierte es dann auch Anna. Im Training schätzte sie die Distanz zum Wasser falsch ein, überdrehte ihren Sprung – und schlug hart auf dem Wasser auf. Sie kam glimpflich davon, es blieben nur ein paar schmerzhafte Prellungen. „Och, darüber will ich gar nicht mehr reden“, sagt sie heute und schaut genervt. „Der Unfall hat mich wach gerüttelt. Mir ist bewusst geworden, dass es immer ein Spiel mit dem Feuer ist.“ Über Aufhören habe sie jedoch nie nachgedacht: „Nicht eine Sekunde. Angst habe ich aber bei jedem Sprung – sie ist ein Schutz.“
Nun freut sie sich auf die Europameisterschaft. „Ich will meinen Titel unbedingt ein weiteres Mal verteidigen“, sagt Anna. Sie hofft auf mehr Konkurrentinnen, beim letzten Mal waren es nur drei. „Ansonsten würde ich auch sehr gerne bei den Männern aus größerer Höhe mitspringen. Mal sehen, ob das klappt.“ Als Frau genieße sie ohnehin einen Sonderstatus in der Szene. „Blöde Sprüche von den Springern habe ich noch nie bekommen. Im Gegenteil: Ich glaube, ich habe bei denen eher einen Beschützerinstinkt geweckt.“ Vor zwei Wochen sprang sie außer Konkurrenz bei einem Männerwettbewerb im italienischen Polignano – aus 24 Metern Höhe, ein neuer Rekord für sie. 20.000 Zuschauer jubelten. „Es war fantastisch.“
Ein normales Leben kann sich Anna nicht vorstellen. Sie will bald ihr Studium der Fächer Englisch, Spanisch und Geographie abschließen. „Ich möchte danach aber kein Referendariat absolvieren und als Lehrerin arbeiten“, erzählt Anna. Sie träumt stattdessen davon, als Artistin um die Welt zu tingeln oder ein Buch zu schreiben. Im letzten Jahr arbeitete sie einen Monat lang in einer Showgruppe in China. „Ich würde gerne vom Sport leben können. Es macht so viel Spaß zu Springen.“
Ihr Mut zum freien Fall hat aber auch Grenzen: Einen Bungee-Sprung würde sie nicht machen. „Nee, niemals“, sagt Anna und lacht. „Wie furchtbar. Da müsste ich mich auf so ein Seil verlassen. Das kann ich nicht. Ich verlasse mich viel lieber auf mich selbst.“
Text: matthias-klein - Foto: privat