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Mitten im Schwarm

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Die erste von 34 Kurzmitteilungen kommt um 17 Uhr 22: „Liebe Mitspieler, T minus 80 Minuten. Um 17.41 Uhr wird der geheime Treffpunkt des Schwarms im öffentlichen Raum kommuniziert.“ Da bin ich dann doch ein bisschen aufgeregt. Eine Stunde später weiß ich: Der geheime Treffpunkt ist das Neue Haus der Münchner Kammerspiele. Mindestens 300 Leute haben sich hier im abgedunkelten Foyer versammelt und beobachten einen Vogelschwarm, der an die Wand projiziert wird. Der Schwarm saust durch die Luft, auf die Erde zu, geht kurz auseinander, um sich dann wieder zu einem großen Pulk zusammenzuschließen. Genau das sollen wir gleich auch machen, einen Schwarm bilden, der durch die Münchner Innenstadt zieht und die Passanten mit kleinen Aktionen überrascht.

Organisiert haben diesen Menschenschwarm Benjamin David, 33, und seine Kollegen von den „Urbanauten“. Sie setzen sich in verschiedenen Projekten mit dem öffentlichen Raum in München auseinander. Dabei ist jetzt „Moments of Starlings“ herausgekommen, eine Reihe von vier SMS-Flashmobs, die alle nach dem Schwarmprinzip funktionieren sollen: „Per SMS und Twitter teilen wir den Leuten mit, wohin sie als nächstes schwärmen und was sie dort tun sollen“, erklärt David. Sein Team ist fasziniert von der Ästhetik der Vogelschwärme, vor allem von Staren. „Die schwärmen am schönsten“, sagt er. Um mitzumachen, muss man einem Twitterfeed folgen oder eine 4,99 Euro teure Anmelde-SMS verschicken. Eigentlich ist es nicht üblich, für die Teilnahme an einem Flashmob zu bezahlen. „Aber wir müssen irgendwie die vielen SMS finanzieren“, sagt David. „Noch hat leider nicht jeder ein internetfähiges Handy. In ein, zwei Jahren lässt sich so etwas vielleicht komplett über Twitter organisieren.“ Gestern Abend fand nun der erste Schwarm statt, und das war gleich ein ganz besonderer, denn Charlie Todd war da. Todd ist der Gründer von „Improv Everywhere“, einer New Yorker Bewegung, die verschiedene Flashmobs veranstaltet und anschließend Videos und Bilder davon im Internet verbreitet. Zu seinen bekanntesten Aktionen zählen das „MP3-Experiment“, bei dem hunderte Menschen im Central Park die gleichen Gymnastikübungen machten, oder „Frozen Grand Central“, wo eine ebenso große Menschenmenge in dem New Yorker Bahnhof minutenlang erstarrte. Todd hat inzwischen Fans und Nachahmer in aller Welt. Viele, die gerade dem Vogelschwarm an der Wand zuschauen, sind auch wegen ihm hier. Und dann kommt er und gibt uns durch ein Megafon letzte Instruktionen. „Bitte versucht, nicht so viele Fotos zu machen“, sagt er. „Sonst geht die Magie verloren.“

Da klingelt auf einmal mein Handy. Und das meiner Nachbarin. Und das von dem alten Mann neben ihr. Hunderte verschiedene Klingeltöne gleichzeitig, und überall dieselbe Nachricht: „Raus auf die Straße! Die Maximilianstraße entlang SCHWÄRMEN und bis in die Fußgängerzone/Theatinerstraße folgen!“ Die Masse drängt durch die Türen. „Schaut in die Zeitungskästen!“, ruft uns Todd noch hinterher, dann geht es los. Manche schlendern gemütlich, andere laufen in Schlangenlinien oder auch mal in die falsche Richtung. Einige breiten sogar die Arme aus, wie richtige Vögel. Tatsächlich entsteht so etwas wie ein Schwarm. An einem der Zeitungskästen treffe ich Andreas, 25. Er drückt mir eine Flasche Seifenblasen in die Hand, die in dem Kasten versteckt war. Was das soll, weiß er nicht. „Ich bin mit einer Freundin hier, die habe ich schon verloren“, sagt er, „aber das gehört wohl dazu.“ Wie die meisten hier hat er vorher noch nie bei einem Flashmob mitgemacht. „Mich fasziniert die Idee dahinter, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen.“ Er hofft auf ein paar magische Momente und lustige Situationen. Die erste gibt es an der Haltestelle Theatinerstraße, wo sich ein Auto im Schwarm festfährt. Als es laut hupt, lacht die Menge bloß und schwärmt noch wilder. Das Auto stellt den Motor ab. Dann kommt eine Trambahn, und ihre schrille Glocke mischt sich mit dem Handyklingeln, das wieder aufbrandet: „Einzeln und unauffällig die Fünf Höfe betreten! Unauffällig unter den Hängepflanzen in der Mitte umher flanieren!“

Zugegeben, ganz so unauffällig sind wir nicht, als wir uns alle unter den hängenden Gärten in dem Münchner Einkaufszentrum versammelt haben. Neben mir macht ein Mann erste Seifenblasen. „Noch nicht pusten!“, ruft eine junge Frau empört. „Dann ist doch die Überraschung weg!“ Das ist Jana, 27. Sie erfüllt sich heute einen lang gehegten Traum. „Ich wollte immer schon bei einem Flashmob mitmachen“, sagt sie. „Aber in München findet sowas ja sonst nie statt!“ Da piepst ihr Handy: „BUBBLEMOB!“ Jetzt holen alle ihre Fläschchen heraus, nach wenigen Sekunden hängen unzählige Seifenblasen in der Luft. Hinter den Fensterscheiben eines Cafés schauen die Besucher verdutzt. Überall blubbert, bläst und platzt es nun, die Fünf Höfe glänzen in Regenbogenfarben. Nach wenigen Minuten ist alles wieder vorbei, „BUBBLE OVER!“ steht in der SMS. Blitzschnell verzieht der Schwarm sich nach draußen. Dann geht es in den Untergrund. In der U-Bahnhaltestelle Marienplatz werden wir den berühmten „Frozen Grand Central“ nachstellen. Darüber freuen sich manche Teilnehmer ganz besonders. Während wir Richtung Rathaus schwärmen, werfen sie sich verschwörerische Blicke zu. Andere nehmen den Überraschungseffekt sehr ernst, sie wollen auf keinen Fall so aussehen, als gehörten sie dazu. Glaube ich zumindest. Denn auf einmal sieht man in jedem Fußgänger einen Flashmobber und kann sich überhaupt nicht mehr sicher sein, wer nun dazugehört und wer nicht. Dafür ist dieser Schwarm zu bunt gemischt: Viele junge Menschen sind dabei, aber auch Senioren und Eltern mit ihren Kindern. Sogar die Mutter von Benjamin David macht mit. „Dabei hab ich nicht mal ein Handy!“, sagt sie. Sie hält sich einfach an die drei Prinzipien des Schwarmverhaltens, die uns Charlie Todd vorhin erklärt hat: Kohäsion, Alignment, Separation. Wir sollen uns stets zum Mittelpunkt der Menge hin bewegen und immer in etwa die gleiche Richtung wie alle anderen - uns dabei aber niemals berühren.

In der U-Bahnstation vermischen sich die Teilnehmer vollends mit den Reisenden. Wir alle warten jetzt unauffällig auf die nächste SMS, das nächste Klingeln, denn das bedeutet: Einfrieren! Ich kaufe mir ein Käsebrötchen und schlendere kauend zwischen den Rolltreppen entlang, als das Signal ertönt. Mit einem Mal steht der Bahnhof still. Ich erstarre in einer denkbar ungünstigen Position: Mein ganzes Gewicht habe ich gerade aufs linke Bein verlagert, meine Hand hängt, ein Stück Brötchen abreißend, in der Luft, mein Mund steht halboffen. Neben mir frieren die Leute beim Telefonieren, Küssen, Zigarette Anzünden ein. Die Passanten um uns herum versuchen, sich einen Weg durch das Labyrinth von Statuen zu bahnen, oder bleiben verblüfft stehen. Ein paar Jungs tauchen vor mir auf und schneidern wilde Grimassen, wie man es als Tourist in London macht, um einen der Guards zu provozieren. Als ich grinsen muss, ziehen sie wieder ab. Ein Mann streift mich im Vorbeigehen. Normalerweise wäre ich ihm ausgewichen, aber jetzt verharre ich ganz still in meiner Position. Weiter hinten sehe ich Andreas, der beim Fahrkartenstempeln eingefroren ist. Eine Frau macht ein Foto von ihm. In meiner linken Wade kitzelt ein Krampf. Ich beiße die Zähne zusammen. Da klingelt es wieder, in meiner Jackentasche und überall um mich herum. Das ist das Zeichen. Prompt fallen alle aus ihrer Starre und zerstreuen sich in sämtliche Richtungen. Die Zuschauer applaudieren, einige stehen noch einen Moment lang wie benommen da. Auf den Gesichtern der eben noch so starren Flashmobber liegt ein leises Lächeln. Dass noch immer keine Polizei aufgetaucht ist, liegt daran, dass sie mitmacht: Vereinzelt haben sich Beamten in zivil in den Schwarm gemischt. Die „Urbanauten“ hatten die Aktion im Vorfeld vom Stadtrat absegnen lassen. Das ist eigentlich gegen die Flashmob-Regeln. „Diesen Kompromiss mussten wir eingehen“, sagt Benjamin David. Schließlich werde das Projekt vom städtischen Kulturreferat gefördert. Trotzdem ist er überrascht, dass sich nicht einmal jemand beschwert: „Wir haben die Versammlungen nicht angemeldet, weil wir immer nur höchstens fünf Minuten lang an einem Ort sind.“

Wir schwärmen wieder, dieses Mal ins Kulturreferat. Die Stimmung ist heiter. Obwohl die Aktionen so ruhig und gelassen verlaufen, herrscht in den Köpfen Partystimmung. Charlie Todd gibt uns Anweisungen für die letzte Aktion. Wir sollen in einer naheliegenden Bank hinter einem einzigen Geldautomaten eine extrem lange Schlange bilden. „Wenn euch jemand fragt, warum ihr da wartet, sagt, dass dieser Automat der billigste ist oder das beste Geld hat und ihr den anderen nicht vertraut“, sagt Todd. „Und wenn ihr fertig seid, stellt euch einfach wieder hinten an.“ Fertig werden aber nur ein paar wenige. Die Schlange, die wir bilden, reicht die ganze Sparkassenstraße herunter. Ich stehe irgendwo in der Mitte, als eine Frau vorbeikommt. „Ich war vor fünf Minuten noch da, da war hier kein Mensch!“, sagt sie. Ein älterer Herr fragt unsicher, ob er jetzt auch sein Geld abholen müsse. Aber da piepst und klingelt es schon wieder überall, und die ultralange Warteschlange verschwindet genauso schnell, wie sie gekommen ist. Die nächsten SMSmobs finden am 10. und 25. November und am 3. Dezember in München statt. Um mitzumachen schicke eine SMS mit schwarm 01, schwarm 02 oder schwarm 03 an 11832 oder folge dem Twitterfeed. Weitere Informationen gibt es hier.

Text: eva-schulz - Fotos: Andreas Sturm

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