Im Berlin-Warschau-Express sitzt mir eine blonde Frau um die Fünfzig gegenüber. Sie ist Dozentin für Medizin in Krakau. Sie erklärt mir, dass die Kruzifixe an den Straßen keineswegs eine alte, polnische Tradition sind, sondern Gedenkorte für Unfallopfer. Dass diese so groß angelegt sind und so geschmückt, sieht sie als Indiz für den großen Einfluss der Katholiken in Polen. Derzeit seien sie sehr stark in der Öffentlichkeit präsent, da auch der neue Staatspräsident ein streng-gläubiger Katholik mit entsprechender politischer Agenda sei. Aber die Medizinerin glaubt, dass dies ein letztes Aufbäumen ist. Die jungen Leute seien inzwischen ganz anders und viel weniger religiös, sagt sie.
Anna hatte auch erzählt, dass viele junge Polen nach der Uni auswandern, weil sie Geld brauchen, um sich in Polen eine eigene Wohnung leisten zu können und auch, weil sie dann zum ersten Mal nicht in der Wohnung ihrer Eltern leben und die Freiheiten genießen, die in Deutschland für die meisten Studenten normal sind. Die Dozentin befürchtet, dass die gut ausgebildeten, jungen Polen nie wieder nach Polen zurückkommen, weil sie im Rest von Europa einfach die besseren Chancen haben. Dabei könne man in Polen sehr gut leben, da die inoffiziellen Gehälter weit über den offiziellen lägen, erzählt sie. Sie empfiehlt jedem Deutschen, der gerade nichts Besseres zu tun hat, in Breslau oder Krakau Deutsch-Unterricht zu geben. Sie rät aber dringend davon ab, Polnisch lernen zu wollen. Es sei viel zu kompliziert. Dann sagt sie, dass man mehr von einem Land sehe, wenn man mit dem Auto reise. Man könne auch mal anhalten.
Kurz vor der Grenze sehe ich einen Storch, das letzte prägende Bild von Polen. Im Bahnhof von Frankfurt (Oder) empfängt mich ein Nina-Hagen-Plakat.