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Mein erster Krieg

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„Und? Was sagste zu deinem ersten Krieg?“, fragt Yariv, während sein Freund sich so köstlich über die kleine Deutsche amüsiert, die doch tatsächlich noch nie einen Bombenalarm erlebt hat und wegen so ein bisschen Warngeheule nervös wird, dass er fast über eine Stufe stolpert. Mein Herz schlägt bis zum Hals, die Sirenen hallen noch in meinen Ohren, auch wenn sie längst verstummt sind. Das einzige, was zu hören ist, ist das Klingeln unzähliger Handys. Dann brechen die Netze zusammen. 

Wir stehen im Treppenhaus des alten Fabrikgebäudes, in dem Yariv sein Atelier hat, an die Nordwand gedrückt. An der ist es am sichersten ist, wie er mir erklärt – „Raketen aus dem Süden, ergo Norden, klar?“ – weil mir eben auch dieses Basiswissen fehlt. Genauso, wie die Tatsache, dass man erstmal die Fenster aufmacht, bevor man in den Schutzraum rennt, damit das Glas beim Einschlag nicht zerbirst. Oder dass man, wenn mit einem Angriff zu rechnen ist, vielleicht nicht gerade mit High Heels unterwegs sein sollte, wie es die kleine Deutsche an diesem Tag ist. Vom Einsetzen des Alarms bis zum Einschlag einer Rakete bleiben einem in Tel Aviv im Schnitt zwei Minuten; da wählt man besser gutes Schuhwerk.  

Sarah erlebt ihren ersten Raketenalarm in Tel Aviv. Das Bild zeigt eine Detonation nach einem israelischen Angriff auf den Gaza-Streifen.

Seit Wochen hatte ich vor, Yariv, seit kurzem Vollzeitkünstler, mal wieder zu besuchen, um mir seine neusten Bilder anzusehen. Auf dem Weg durch Florentin, entlang der betont verranzten Cafés, in denen die berlinverrückten Hipster abhängen, hatte ich noch mit meiner Mutter telefoniert und ihr zum tausendsten Mal versichert, dass mir in Tel Aviv absolut nichts passieren kann. „Ich weiß ja, dass das in der Tagesschau alles ganz schlimm aussieht. Aber die ganzen Toten gibt es nur an der Grenze zu Gaza. Die Hamas weiß sehr genau: Wenn sie Tel Aviv angreift, schlägt das israelische Militär mit voller Kraft zurück, dann wäre nichts mehr mit Warnschüssen.“ Ich wiederhole das, was ich selbst pausenlos erzählt bekomme. Mit erwartbar mäßigem Erfolg. Mutter: „Willst du nicht vielleicht doch für ein paar Tage heim kommen?“
Ich: „Maaama, das hier ist jetzt mein Zuhause. Wenn die Leute jedes Mal die Flucht ergreifen würden, wenn es ein paar Spannungen gibt, wäre Israel schon längst von der Landkarte verschwunden.“
Und: „Die israelischen Streitkräfte haben am Mittwoch eh den Großteil der Fadschr-Langstreckenraketen zerstört, sodass die Hamas kaum noch etwas hat, was bis hier her reichen würde.“ Ich hoffe, das Fachvokabular vermittelt ihr den Eindruck, ich würde mich verdammt gut auskennen, und beruhigt sie ein wenig.  

Zwei Stunden später heult es los. Ohrenbetäubend. Und trotzdem schaffe ich es die ersten ein, zwei Sekunden tatsächlich zu glauben, es sei nur der Wind, Verkehr, Musik. Erst als Yariv mitten im Satz aufspringt und die Tür aufreißt, nehme ich den Alarm als solchen wahr und laufe hinter ihm nach unten.  

Grundsätzlich hat in Israel jedes Gebäude, dass seit den 50ern gebaut wurde, einen Bunker. Aber dieses hier ist uralt. Etwas sicheres als das Treppenhaus, Nordwand, gibt es nicht. Mein Telefon beginnt zu läuten. In den drei Jahren, die ich hier bin und in denen es gefühlt ein Mal pro Monat so aussah, als könne es Krieg geben, habe ich meine Freunde wieder und wieder instruiert, mir bescheid zu geben, wenn es mal wirklich ernst werden sollte. Jetzt klingelt es pausenlos. Sarahle, das ist keine Übung. Sarahle, weißt du, was du zu tun hast? Sarahle, mach dir keine Sorgen. Und über allem noch immer das Geheule.  

Eine Sirene ist ein ziemlich beängstigendes Geräusch. Selbst wenn man sie zum ersten Mal hört und nicht wie die Israelis in meinem Alter, die während des Golfkriegs Kinder waren und jede Nacht mit Gasmasken im Keller saßen, eigene Erinnerungen daran knüpft, geht einem der schrille Ton durch Mark und Bein. In den Stunden danach, wenn er in den Fernsehnachrichten über den Beschuss immer wieder ertönen wird, werde ich jedes Mal kurz zusammenschrecken.  

Aber um jetzt wirklich Angst zu kriegen, ist meine Begleitung einfach zu gelassen. Oder vielleicht doch besser: Zynisch. Sekunden nachdem die Explosion zu hören war, setzt der Galgenhumor ein. „Vielleicht sinken jetzt wenigstens die Mietpreise in Tel Aviv“, sagt ein Mädchen, das von oben kommt und sich zu uns gesellt. „Bestimmt, wenn es hier kracht, ziehen die reichen Franzosen ganz schnell ab“, sagt ein zweites Mädchen. Andere reden darüber, dass die ausländischen Journalisten, in deren Augen die Palästinenser die einzigen Opfer sind, endlich mal sehen, dass auch Israelis bedroht werden. „Solange die Raketen im Süden fallen, ist das doch allen egal“, sagt Yariv. „Als gäbe es da keine verletzten Kinder. 130 Sprengsätze in 72 Stunden. Und trotzdem schreiben sie, Israel sei der Aggressor.“  

Die einzigen, denen die Angst anzusehen ist, sind die Alten. Eine Frau mit steifer Tasche und Hütchen auf dem Kopf hält sich am Geländer fest, kämpft mit den Tränen. Ein Mann versucht sie mit Schmeicheleien abzulenken: „Was für ein schönes Kleid!“... „Ich hätte sie höchstens halb so alt geschätzt.“ Die Frau zittert nur noch heftiger.   

„Wollen wir wieder hoch?“, fragt Yariv, für meinen Geschmack viel zu früh. Ich zucke die Schultern. „Sagt einem niemand, wann’s vorbei ist?“, frage ich zurück und komme mir sehr dümmlich vor. Yarivs Freund, noch immer oder schon wieder grinsend, schüttelt den Kopf. „Wenn was nachkommt, gibt’s wieder einen Alarm, dann gehen wir halt zurück“, sagt er, während er vorausläuft.  

Wir steigen zurück nach oben, stellen das Radio an, klicken uns die Finger beim Erneuern der Nachrichtenseiten wund. Auf Facebook posten viele eine Bitte der Armee, nichts darüber zu veröffentlichen, wo genau Raketen eingeschlagen haben, um der Hamas nicht ungewollt zu helfen.  

Die ersten deutschen Freunde melden sich, der eine Teil panisch, der andere völlig panisch. Von vielen habe ich seit Monaten nichts mehr gehört. „Ist dir eigentlich klar, dass du mitten in einem Kriegsgebiet bist!“, schreit es mir aus der Heimat entgegen. „Ja ja“, sage ich. Aber die Wahrheit ist, dass ich mich fast schlecht fühle, ob all der unverdienten Sorge. Was war denn schon? Es gab ja nicht mal Verletzte.  

Als ich mich endlich auf den Nachhauseweg mache, sind die Cafés genauso voll wie zuvor. Ein anderer israelischer Freund ruft an. „Ich geh was trinken. Nichts macht so viel Spaß, wie ein post-Alarm-erschüttertes Mädchen abzuschleppen. Kommst du mit?“ Ich: „Nein danke, ich will noch ein paar Konserven einkaufen gehen.“ Er: „Ach wie niedlich, Hamsterkäufe!“ Er gackert in den Hörer. „Keine Sorge, selbst wenn es noch mal Alarm geben sollte – die Hamas hat doch gar nicht die Technologie, richtig zu zielen. Die Chance, etwas zu treffen liegt bei eins zu…“ Ich schreibe im Gedächtnis für meine Mutter mit.  

Bevor ich, mit Tüten bepackt, zurück in meine Wohnung gehe, gucke ich sicherheitshalber doch noch mal in den Keller. Bisher habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, aber tatsächlich gibt es hier einen Schutzraum, ein miefiges Zimmerchen mit Blinzellämpchen, fünf bis sechs Stühlen und einer Wolldecke.   Wahrscheinlich war’s das jetzt ohnehin schon, denke ich, als ich ins Bett gehe, die flachen (!) Schuhe gleich neben dem Nachttisch. Und noch während ich diesen Text schreibe ertönt bereits die nächste Sirene.

Text: sarah-stricker - Foto: dpa

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