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Mein Browser lebt

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Morgenroutine. Kaffee, Computer an, Mails checken, Browser öffnen. Meine Google-Startseite öffnet sich, sofort sehe ich: Kate und Jojo sind auch schon da. Ich winke ihnen mit schläfrigen Augen zu, Jojo winkt zurück und macht einen Witz. Es klingt als hätte jemand die Welten durcheinandergebracht, die reale und die virtuelle. Es ist nicht neu, dass das Internet eine Kontaktbörse sein kann, ein Ort, um echte Menschen in der echten Welt kennen zu lernen. Online-Communities, Datingplattformen, Chats, Foren, Blogs – seitdem die Version 2.0 des weltweiten Informationsnetzes offiziell ausgerufen wurde, wird kommuniziert und genetworkt, dass es nur so brummt. Bisher hatte die Sache nur einen großen Haken: Während man in das blaue Licht der Maschine starrte, war man bis auf wenige Ausnahmen allein. Prothesen wie Instant Messenger erlaubten zwar die Illusion momentaner Zweisamkeit, aber nie konnte man sich selbst und seine Freunde mit auf die Reise durch die Weiten des Internets nehmen.

Seit einer guten Woche ist nun die public beta Version von Zweitgeist online, die erstmals das gemeinsame Surfen im Internet ermöglicht. Das Prinzip ist denkbar einfach. Man lädt sich eine kostenlose Client-Software herunter und erstellt dann innerhalb der Zweitgeist-Community eine virtuelle Persönlichkeit, den Zweitgeist. Nachdem man das Zweitgeist-Programm gestartet hat, öffnet man den Webbrowser. Nun sieht man sich selbst und alle anderen Zweitgeister, die sich in diesem Moment auf einer Website befinden, am unteren Bildrand herumlungern, mit einem kleinen Namensschild versehen. Sie stehen herum, laufen umher, tauchen plötzlich auf, verschwinden wieder, lachen unvermittelt, staunen, stutzen, strahlen. Der eigene Zweitgeist kann andere einfach per Mausklick ansprechen oder zu einem nicht öffentlich sichtbaren Chat einladen, der dann in einem eigenen Fenster stattfindet. Küssen geht auch. Zur besseren Orientierung, wo sich gerade besonders viele Zweitgeister aufhalten, findet man auf der Zweitgeist-Seite eine „Topcloud“. Wie eine Label- oder Tagwolke aufgebaut, zeigt sie die innerhalb der letzten zehn Sekunden am stärksten besuchten Webseiten.

Der echte Mensch „Wir wollen das Internet menschlicher machen“, sagt Christine Stumpf, zweite Geschäftsführerin von Zweitgeist. Gemeinsam mit Heiner Wolf gründete sie im Juni 2006 die Zweitgeist GmbH in Karlsruhe, für die beide ihre Jobs in einem Softwareunternehmen aufgaben. Christine Stumpf als großer Web-2.0-Fan und Heiner Wolf als passionierter World-of-Warcraft-Spieler ließen ihr Wissen und ihre Begeisterung zusammenspielen, um das Internet um die Dimension zu erweitern, die es bislang nicht gab. Ein wichtiger Antrieb war dabei Wolfs Idee, seinem liebevoll aufgebauten Warcraft-Character den Schritt heraus aus der wilden Fantasywelt zu ermöglichen, um mit ihm durchs Internet zu reisen. Community-Plattformen wie der Web.de-Nachfolger Combots bieten zwar die Möglichkeit, virtuelle Persönlichkeiten zu erstellen, die den echten Menschen repräsentieren sollen, aber auch hier bildet die Website selbst die Grenze des virtuellen Aktionsradius. Außerdem sind die konfigurierbaren Figuren Fantasiegestalten, während Zweitgeist den echten Menschen im Blick hat. „Das Internet soll in Zukunft aus der Userperspektive das repräsentieren, was die Menschen wirklich sind. Ein Ort, an dem die eigene Persönlichkeit nicht an einen Anbieter oder eine Organisation gebunden ist und überall hin mitgenommen werden kann. Deshalb sind bei uns die 30 Figuren, aus denen der User seinen Avatar vorauswählen kann, Fotos von echten Menschen.“ Eine individuelle Darstellung ist natürlich ebenfalls möglich. „Einige User haben schon jetzt eigene Charaktere aus Videos und animierten Gifs gebaut. Das Konzept wird erstaunlich gut angenommen, wenn man bedenkt, dass erfahrene Web 2.0 User derartigen Neuerungen erfahrungsgemäß eher kritisch gegenüber stehen. Die Angst der User vor Durchleuchtung ist nicht zu unterschätzen.“


Aus diesem Grund spielen auch Datenschutzbedingungen und Privatsphäre bei Zweitgeist eine wichtige Rolle. Ein Zweitgeist-User kann die Sichtbarkeit bei seinen Websitebesuchen selbst steuern, entweder für einen aktuellen Aufruf oder grundsätzlich für bestimmte Seiten. „Der Besuch bei Beate-Uhse.de ist ein gutes Beispiel. Wenn man dabei nicht gesehen werden möchte, kann man diesen Besuch verbergen. Die URL wird grundsätzlich durch eine „Hash“-Funktion verschlüsselt übertragen. Andererseits könnte es ja auch sein, dass ein User gerade den Besuch bestimmter Webseiten als repräsentativ empfindet und genau dort andere Zweitgeister treffen möchte. Die Entscheidung liegt bei ihm.“ Zweitgeist befindet sich derzeit noch im Anfangsstadium. Obwohl die public beta Version bereits läuft und in sich eine absolute Neuerung darstellt, sind noch weitere Verfeinerungen geplant, die sich nicht nur auf die Optik beziehen. „3D-Ansichten der Avatare sind schon in Arbeit. Aber darüber hinaus werden wir den wichtigen Dating-Aspekt von Zweitgeist in Zukunft stärker herausstellen. Wir wollen dafür allerdings nicht mit den bisher üblichen, behelfsmäßigen Matchingtools arbeiten, sondern werden Lösungen anbieten, die wissenschaftlich fundiert und für den User sinnvoll sind. Es fällt uns auf, dass die Zweitgeist-User eher verantwortungsvolle, seriöse Typen sind. Über die Hälfte der aktuell registrierten User nutzen ihren echten Namen als Avatar und scheinen das Ganze erfreulich ernst zu nehmen, ohne dabei den Spaß aus den Augen zu lassen.“

Dass die Zweitgeister sich als gute Geister offenbaren, ist sicher auch Teil der sanften Marketingstrategie, die von den Gründern verfolgt wird. „Wir hauen fürs erste nicht extrem auf die Werbetrommel, sondern setzen auf die Freundeseinladung per Mail, die man auf unserer Seite machen kann. Es ist außerdem geplant, ein User-Branding für Mitglieder externer Communities anzubieten. Ein Communitymitglied kann dann als Zweitgeist Werbung für die eigene Community machen. Dadurch können sich eigene Untergruppen bilden, die als Zweitgeister an ihrer äußeren Erscheinung erkennbar sind, zum Beispiel Fans desselben Fußballvereins.“ St.Pauli-Fans, Papstanhänger, Todesmetaller und BMW-Fahrer könnten sich also in Zukunft per Zufall beim Spiegel-Online Lesen begegnen, ein Schwätzchen halten, sich näher kennen und lieben lernen. Möglicherweise lautet somit die Antwort auf die Frage „Wo seid ihr euch das erste Mal begegnet?“ in Zukunft „Tja, Schatz, wo war das noch? Ich glaube, auf der Startseite von Briefmarkensammler.de“. Bilder: Zweitgeist.com

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