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Matschfotos und krasse Nachbarn
Es werden wieder Tickets gekauft, verkauft und ersteigert, die Zelte werden geflickt, die Fahrer bestimmt und Schlafsäcke hin- und hergeliehen, bis jeder einen hat: Der Mai macht nicht nur alles neu, er erweckt auch die jährliche Festivalsaison zum Leben. An der werden sich auch 2012 die Geister scheiden, denn die einen fiebern ihr seit Monaten entgegen, die anderen scheuen Menschenansammlungen und unberechenbares Wetter und bleiben lieber daheim oder am Baggersee. Allerdings sind die Festivalbesucher in der Manifestation ihrer Rituale und ihres Mitteilungsdrangs so offensiv, dass jeder nicht-Festival-Besucher den Standard-Tagesablauf einer Mittzwanzigers auf dem Melt! skizzieren könnte, ohne jemals dabei gewesen zu sein. Um das anstehende Kommunikationsgewitter von den Zeltplätzen der Republik für die Daheimgebliebenen interessanter zu machen (und um vielleicht den Anstoß für neue Geschichten und Rituale zu geben), haben wir zehn Dinge gesammelt, die wir in dieser Festivalsaison nicht hören, sehen oder wissen wollen. Denn: Alles neu macht der Mai – dafür muss das Alte aber erstmal weg!
1. Vorfreude-Posts
Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude und gehört zu den Gemütsregungen, die man jedem gönnt. Aber „Jetzt geht's los/ab/auf" und das abfotografierte Ticket online zu posten ist weder besonders elegant noch besonders originell. Ein weiteres sehr beliebtes Vorfreude-Dokument ist das Foto eines aufgeklappten und mit allerlei buntem Kram vollgestopften Kofferraums. Das sieht aber nie schön und nie nach Freiheit und Fernweh aus, sondern selbst mit Instagram-Hilfe noch so als hätte Papi anno 1980 vor der Abreise in den Familienurlaub an den Gardasee seinen Packstolz abfotografiert.
2. Matsch- und Campingstuhl-Fotos
Wer eine Reise tut, macht Bilder, damit er nachher was zu zeigen hat. Zwei Motive wurden aber schon zu oft gezeigt. Erstens: Das Foto für schlechtes Wetter, das hockend und mit schräg nach unten gerichteter Linse gemacht wurde, um möglichst viel nassen und matschigen Boden festzuhalten (nein, auch bunte Gummistiefel oder nackte, verdreckte Füße machen es nicht sehenswerter). Zweitens: Das Foto für gutes Wetter, das eine verstrahlte, leicht bekleidete Person mit Sonnenbrille, Kopfbedeckung und Bier in einem durchgesessenen Campingstuhl zeigt.
3. Die Geschichte von den Typen im Zelt nebenan
Auf Festivals passieren Dinge, manchmal sogar verrückte, skurrile und berichtenswerte Dinge. Seltsam ist, dass alle immer bloß von den Typen im Zelt nebenan erzählen, die schon morgens Bier getrunken oder den ganzen Tag gekifft haben. Außerdem haben sie natürlich total betrunken mit der Luftmatratze Schlammrutschen veranstaltet, echt freaky und woodstockmäßig auf dem Autodach getanzt und mit ihrem Gegröle alle müden Partymenschen wachgehalten. Okay, vielleicht sind die einfach in jedem zweiten Zelt und in den Zelten dazwischen sind die Leute, die von ihnen erzählen. Und mehr passiert dann doch nicht.
4. „Ey krass, ich hab mich drei Tage nicht gewaschen!"
Sich zu waschen ist etwas sehr Schönes. Wenn man sich mal nicht waschen kann, ist das schade. Dann hält man es durch, bis der nächste Wasserhahn, Brunnen oder See in Reichweite ist. Aber später mit stolzgeschwellter (und längst geduschter) Brust zu erzählen, sich drei Tage nicht gewaschen zu haben (obwohl die Möglichkeit dazu bestanden hätte) ist eine Art von Triumph, die für die meisten Menschen schwer nachvollziehbar ist.
5. Das Dauerchillen
Warum hat man noch mal das ganze Geld für das Ticket ausgegeben, Proviant gekauft, den weiten Weg zurückgelegt und sich drei Tage nicht gewaschen? Klar, wegen der Gemeinschaft, wegen der Freiheit, wegen des guten Gefühls! War da sonst noch was? „Das Chillen auf dem Campingplatz", hört man viele Festivalbesucher nach ihrer Rückkehr sagen, „war so super, dass ich es am Ende zu keiner einzigen Band geschafft habe."
6. Handyvideos aus der Zuschauermenge
Schwärmereien über gute Live-Auftritte guter Bands sind oft mitreißend und machen Lust auf Konzertbesuche. Was keine Lust auf Konzertbesuche macht: Handyvideos, die auf einem Festival aus dem hinteren Drittel der Zuschauermenge aufgenommen wurden, anschließend bei YouTube hochgeladen und per sozialem Netzwerk an alle verteilt werden. Man erkennt: Nichts. Man hört: Geschepper und die extrem laute Festival-Geräuschkulisse.
7. Das Festival-T-Shirt
Mal ganz nüchtern betrachtet: Der Schnitt ist nie gut und das Design kann noch so ausgefallen sein, durch das aufgedruckte Datum erinnert es immer an gratis-Shirts von „Jugend trainiert für Olympia" und durch die Liste mit Bands auf dem Rücken an das Abschluss-T-Shirt der Schule. Hut ab vor dem, der damit gut aussieht.
8. Das verwesende Bändchen
Während man dort ist, braucht man das Bändchen, um sich als legitimer Besucher auszuweisen. Nach dem Festival braucht man es allenfalls, um anderen zu zeigen, dass man dort war. Aber erstens kann man damit niemanden beeindrucken und zweitens durchlaufen die Bändchen einen langsamen, aber stetigen Verwesungsprozess („Wolfgang-Petry-Effekt"), den man an keinem Arm sehen will.
9. „Früher war alles besser"-Variationen
Ja, dein Lieblingsfestival war früher mal kleiner und günstiger, und ja, du bist ein alter Hase und warst von Anfang an mit dabei. Aber sich zu beschweren, dass es nun größer und teurer geworden ist und neue Leute nachkommen, ist Unsinn und auch ein bisschen vermessen. Ist ja schließlich für alle da, dein Festival.
10. Rückweg-Jammerei
Man hat es doch vorher gewusst! Wie weit es ist, wie dreckig und verkatert man sein wird, wie viele Menschen gleichzeitig versuchen werden, vom Campingplatz runter, über die Landstraße und auf die Autobahn zu kommen. Von allen Geschichten, die rund um Festivals erzählt werden, ist die vom beschwerlichen Rückweg die uninteressanteste und unsympathischste, weil man damit versucht, die zurückliegenden Tage zur Heldentat zu verklären. Besser wäre: Einfach nach Hause fahren, sich ausschlafen, am nächsten Tag selig sein und noch ein paar Stunden am Festivalbändchen schnuppern, bevor man es abschneidet.
Text: nadja-schlueter - Foto: froodmat / photocase.com