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„Man muss dauernd Angst haben vor Angriffen“

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Und schon wieder ein Angriff auf eine jüdische Einrichtung in Frankreich: Am vergangenen Montag attackierte ein 30-jähriger Mann Soldaten, die ein Jüdisches Zentrum in Nizza bewachten, mit einem Messer. Drei von ihnen wurden verletzt. Der Angriff steht in einer langen Reihe von Aggressionen gegen Juden in den vergangenen Jahren, darunter das Attentat auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012 und die Geiselnahme in einem Supermarkt Anfang Januar.

Die jüdische Gemeinde in Frankreich ist verunsichert, viele Juden wandern aufgrund des wachsenden Antisemitismus aus: Vergangenes Jahr zogen 7000 französische Juden nach Israel, so viele wie nie zuvor.

Ist jüdisches Leben in Frankreich noch möglich? Wir haben junge französische Juden nach ihren Gedanken zu den Attentaten und der Auswanderungswelle gefragt.

Jordan Jablonka, 22 Jahre alt, studiert Wirtschaftsrecht

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



"Ich war geschockt von den Anschlägen. Von diesem Angriff auf die Meinungsfreiheit, aber auch darüber, dass erneut Juden zum Ziel geworden sind. Denn die Geiselnahme im „Hypercasher“ war das Ende einer Reihe von Zwischenfällen in den vergangenen Jahren: Der Angriff auf die jüdische Schule in Toulouse, das Attentat im jüdischen Museum in Brüssel vergangenes Jahr. Aber es geht nicht nur um diese Anschläge. Antisemitismus ist in Frankreich im Alltag angekommen. Es gibt viel physische Gewalt, es kommt oft vor, dass Juden auf der Straße angegriffen werden. Aber es sind vor allem die verbalen Attacken, die mir auffallen. Das beobachte ich gerade in den sozialen Netzwerken immer wieder. Nach den Anschlägen gab es dort natürlich viel Anteilnahme, aber einige schrieben dort auch „Je suis Coulibaly“, solidarisierten sich also mit dem Attentäter, der vier Menschen in einem Supermarkt getötet hat. Das ist doch furchtbar. Nur ein Prozent der französischen Bevölkerung ist jüdisch, dennoch sind Juden überdurchschnittlich oft Opfer von Angriffen. Das ist einer der Gründe, warum viele französische Juden nun nach Israel oder sonstwohin auswandern. Ich verstehe das. Ich verurteile das nicht. Aber ich möchte in Frankreich bleiben. Denn ich glaube, dass wir für unsere Werte einstehen sollten. Ich engagiere ich mich zum Beispiel in der Jugendorganisation der Partei UMP. Weil ich glaube, dass die Anhänger der Republik zahlreicher sein müssen als die Antisemiten."

Marie-Sarah Seeberger, 23 Jahre alt, studiert Poltikwissenschaften

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



"Als ich von den Anschlägen gehört habe, dachte ich: „Was passiert hier? Das ist ja wie Krieg.“ Das war ein Gefühl der Machtlosigkeit. Ein Schock. Ich glaube, dass es ein Sicherheitsproblem für Juden in Frankreich gibt. Aber das gilt, denke ich, für jeden, der hier seine Religion frei ausleben möchte - also auch für Moslems. Und es stimmt schon, dass der Antisemitismus immer mehr banalisiert wird. Ich selber praktiziere den Glauben nicht einmal, nur ein Teil meiner Familie ist jüdisch, aber auch ich spüre, dass etwas anders ist. Die antijüdischen Witze von Komikern wie Dieudonné schocken zum Beispiel niemanden mehr, sie sind normal geworden. Auch, wenn der Ministerpräsident Manuel Valls zuletzt nochmal betont hat, dass Antisemitismus und die Leugnung von Völkermorden ein Delikt ist. Moslems und Juden - sie beide haben zurzeit Angst, Opfer von politischen Vorurteilen zu werden. Für mich ist Erziehung ein Weg, um das Problem des Antisemitismus zu bekämpfen. Wir müssen in Kindergärten, Schulen und Jugendzentren junge Menschen ansprechen. Was ist ein Jude? Was ist Israel? Was ist der Holocaust? Viele Menschen in Frankreich sind, was diese Fragen angeht, ignorant. So könnten wir Vorurteile abbauen. Ich glaube aber übrigens nicht, dass der wachsende Antisemitismus der Grund dafür ist, dass viele französische Juden nach Israel auswandern. Sie tun das, weil sie Israel lieben und nicht, um Frankreich zu verlassen. Das sind zwei verschiedene Dinge. Aber natürlich: In Israel ist es sicherlich einfacher, den jüdischen Glauben zu leben."

Elie Touitou, 19 Jahre alt, studiert Jura

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



"Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas wie die Anschläge Anfang Januar in Frankreich möglich sind. Natürlich, es gab immer wieder Drohungen. Aber diese tatsächliche Kaltblütigkeit hat mich überrascht. Das war ein Angriff auf die Republik, die Polizei, den Journalismus – und die jüdische Gemeinde. Die Gefahr für Juden in Frankreich wird von der Politik ernstgenommen. Politiker haben diese Angriffe verurteilt und jüdische Einrichtungen werden von Soldaten und Polizisten geschützt. Aber dadurch fühlen sich Juden auch etwas vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Es gibt ein ständiges Misstrauen, man muss dauernd Angst haben vor Angriffen. Egal, ob man zum Gottesdienst oder nur zum Supermarkt geht. Ich glaube, damit hängt auch die steigende Zahl der Auswanderer nach Israel zusammen. Viele Freunde von mir sind schon weg und immer wieder lese ich auf Facebook von weiteren Auswanderern. Das Problem liegt irgendwo in der französischen Gesellschaft begraben. Die Attentäter vom Januar, die Brüder Kouachi und Abdoulaye Coulibaly, sind in Frankreich geboren, sie sind hier zur Schule gegangen. Sie sind Kinder der Republik. Das ist das Dramatische daran. Wie wir diesen Antisemitismus bekämpfen können, weiß ich nicht, ich bin kein Politiker. Ich sehe keine kurzfristige Lösung, denn dieses Problem scheint tief in der Gesellschaft verankert. Aber ich weiß, dass ich kein Leben mehr hinter Soldaten und Polizisten führen möchte. Schulen und Synagogen, die von Kameras überwacht und von Polizisten beschützt werden - das ist nicht normal. Und das ist auch nicht lebenswert."

Text: till-daldrup - Fotos: oh

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