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Lebenskünstler, Freiluftkämpfer und Jugendliteraturpreisträger: Kevin Brooks liest für Schüler
Das Murmeln verebbt langsam und jemand schließt die Fenster, um das Knirschen des Kieses und das Lachen der Kinder nach draußen zu verbannen. Und so wird es still im Klassenzimmer, das mit seinen weißen Sprossenfenstern und den schräg einfallenden Sonnenstrahlen eher wie ein großes Wohnzimmer aussieht.
Vor der Tafel erhebt sich ein gedrungener Mann im schwarzen T-Shirt und steht eine Weile wartend vor den versammelten Schülern. Seine gebräunte Haut und die Glatze lassen ihn verwegen wirken, ein bisschen deplaziert in einem Klassenraum, ein Freiluftkämpfer. Erwartung erfüllt die Gesichter der 15- bis 16-jährigen Schüler, denn alle haben sie sein Buch gelesen. „Candy“ heißt es und lässt eine seicht vor sich hinplätschernde Liebesgeschichte vermuten. Ja, es sei tatsächlich eine Lovestory, beginnt der Autor Kevin Brooks zu erzählen. „Jungs reden über Sex, Drogen und andere Dinge, aber über das Sich-Verlieben können sie nicht schreiben.“ Kevin Brooks hat diese unsichtbare Schranke überwunden. Er erzählt aus Sicht des 15-Jährigen Joe, der völlig den Kopf zu verlieren scheint, als er Candy inmitten einer Menschenmenge plötzlich auftauchen sieht. Er verliebt sich in ihre Haut, in ihre Lippen und Augen, sie in sein Lächeln und seine Haare. Candy raucht eine Zigarette, isst einen Donut und lutscht die Eiswürfel aus ihrer Cola. Aber die Illusion einer normalen Liebe ist sehr schnell vorbei. Candy ist heroinabhängig und geht auf den Strich – sie ist Sinnbild einer kaputten Welt voller Gewalt, in der Liebe keine Erfüllung findet. Es sind starke Emotionen und schwere Schicksale, mit denen Kevin Brooks seinen Leser konfrontiert:„Ich mag es, über große Gefühle zu schreiben und gerade bei Jugendlichen sind alle Gefühle sehr intensiv und wichtig. Ich mag die Intensität jeder einzelnen Sekunde und deshalb sind junge Menschen auch die Hauptpersonen meiner Bücher.“ Trotzdem sind Brooks Romane nicht ausschließlich für Jugendliche verfasst, sondern liegen auf der Schwelle zur Erwachsenenliteratur, da menschliche Beziehungen mit großer Feinfühligkeit analysiert werden. Dabei sei es immer schwer, die Balance zwischen „glaubhaft und wahr“ zu halten, denn das Erzählte übertrifft die Erfahrungen der Schüler bei Weitem. Ein Problem hätten sie damit aber nicht, erklären Nadja (15) und Julia (16). Zwar kennen die beiden Mädchen aus München die Problematik nur aus Nachrichten und Internet, sind sich aber dennoch sicher, dass Brooks nicht übertreibt. In ihrem Freundeskreis sei es Gott sei Dank bestenfalls der Alkohol, der den Einen oder Anderen auf einer Party außer Gefecht setze. Julia hört sich sehr vernünftig an, als sie sagt, dass doch eigentlich jeder seine eigene Grenze kennen müsse. Zumindest bis in den Klassenraum des Münchner Gymnasiums ist die Drogenwelt aus Brooks Büchern also noch nicht vorgedrungen.
Kevin Brooks wusste von Anfang an, dass er schreiben wollte. In jungen Jahren verfasste er Gedichte und schrieb Songs, bis er sich mit 35 Jahren endlich an den Roman heranwagte. Der eine Teil ist Nachdenken, der andere dann konzentrierte Schreibtischarbeit. Er erzählt den Schülern, wie gut es ist „das zu tun was man wirklich will“ – und dann damit auch sein Geld zu verdienen. Um zu seiner Berufung zu gelangen, dürfe man sich auch durch widrige Umstände nicht abbringen lassen und so jobbte Brooks als Tankwart, Postbote, Verkäufer im Zoo und Handlanger im Krematorium. Schon immer fühlte er sich „vom Dunklen angezogen“ – was genau er damit meint, will er nicht erzählen. Zumindest schreibt er jetzt darüber. Er grinst verschmitzt und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Dabei sieht er selbst aus wie ein Jugendlicher – wie eine der Figuren aus seinen Büchern, meint der 16-jährige Marcel und setzt hinzu: „Man merkt schon, dass er jung ist.“ In diesem Fall heißt das: 48 Jahre alt. Ist es nicht manchmal schwer, so authentisch von Jugendlichen zu erzählen, wenn man selber bereits einer anderen Generation angehört? Brooks überlegt einen Augenblick, scheint sich in Gedanken noch einmal in die 70er-Jahre zurückzuversetzen. Sein Blick schweift ab und es dauert einige Sekunden, bis er antwortet. Klar war die Gruppenbildung zu seiner Zeit stärker. Da gab es die Punks, die Hippies und viele andere – nur blieb jeder unter sich. Heute könne jeder aussehen wie er wolle, das sei der Hauptunterschied, meint Brooks. „Klar ist eure Generation fest verwurzelt mit Handys, PCs und MP3-Playern, aber das macht euch nicht zu anderen Menschen wie die Jugend vor 30 Jahren.“ Und wenn der Autor dann vor der Klasse steht und sämtliche Fragen der Schüler mit engelsgleicher Geduld beantwortet, dann versteht man, dass Kevin Brooks die Welt gar nicht so anders wahrnimmt, wie die Schüler vor ihm. Da ist auch die englische Sprache keine Barriere und sowohl Marcel, als auch die beiden Mädchen bekräftigen, alles gut verstanden zu haben. Zwar habe es ein wenig gedauert, sich in den Roman einzulesen, erinnert sich Julia, dann war es aber „wie ein Sog und man meinte, selbst Teil der Geschichte zu sein“. Für die Schüler des Obermenzinger Gymnasiums war „Candy“ eine ganz neue Lektüreerfahrung, bei der der Spaß am Lesen im Vordergrund stand, der durch zuviel Interpretation oft verloren geht. Auch Brooks kennt das Dilemma, „die Schnauze voll davon zu haben, Bücher zu analysieren“ und lässt ganz nebenbei die Namen Chaucer und Milton fallen, die ihn in seiner Studienzeit verfolgten. Abgesehen davon hält er die großen Namen in Ehren. Er liebt Shakespeare, und zwar vor allem „wegen seiner guten Geschichten und weil er es liebt, mit Worten zu spielen“. Auch Brooks experimentiert mit Sprache, was ihn von vielen Jugendbuchautoren absetzt. Er traut seinen Lesern etwas zu, nimmt sie ernst und man spürt, dass er sich inmitten der Schüler wohl fühlt: „Ich finde Jugendliche netter als Erwachsene“ – vielleicht der Hauptgrund, warum die Lesung so gut gelingt. "Candy" von Kevin Brooks, 427 Seiten, 10 Euro, erschienen im dtv-Verlag (dtv-extra)