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Landkinder

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Idyllisch könnte man die Gegend vielleicht nennen, aus der Yeter und Ufuk kommen, vielleicht auch „ab vom Schuss", wahlweise „jwd" – janz weit draußen, wie man in Berlin sagt. Berlin ist weit weg von den Hopfenfeldern und Hügeln der Hallertau, der Gegend zwischen Landshut, Ingolstadt und Regensburg, in der die beiden Mädchen in den Jahren aufgewachsen sind. Und in Berlin, oder überhaupt in einer Stadt, da hätten sie nicht groß werden wollen. Darin sind sich beide einig. „Da hätte ich sicher schlechter Deutsch gelernt und mich schlechter integriert", meint Yeter Tastan – auch wenn es auf dem Land nicht immer leicht gewesen sei.



„Lern erst mal Deutsch, dann darfst du mitspielen", bekommt sie auf dem Schulhof zu hören. „Ich war Außenseiterin", sagt die 29-Jährige heute. Als Yeter 1989 in die erste Klasse kommt, spricht und versteht sie kein Wort Deutsch. Sie ist in Deutschland geboren, aufgewachsen in Nandlstadt, einem oberbayerischen Dorf, in dem die CSU regiert und man sich beim Hopfenfest trifft. Zu Hause in dem alten Bauernhaus aber spricht sie nur Türkisch mit ihren Eltern und Geschwistern. In den Kindergarten geht sie nicht.

Ufuk Yüksel, die Zahnarzttochter, besucht den katholischen Kindergarten – den einzigen, den es im niederbayerischen Pfeffenhausen gibt. Beim Sankt-Martinszug läuft sie mit ihrer Laterne mit. Sie lernt Weihnachtslieder, kennt Erntedank und Ostern. „Ich war Teil des Dorfes", sagt sie. Ihre Eltern sind im Kegelclub, gehen auf Faschingsbälle. Die ältere Schwester ist der Star im Tennisclub. Ausländerfeindlichkeit habe sie nicht erlebt, sagt sie. „Das lag bestimmt auch am Status meines Vaters als Zahnarzt." Und der beeinflusste nicht nur, wie stark die Yüksels in der 5.000-Einwohner-Gemeinde integriert waren. Er wirkte sich auch auf Ufuks Werdegang aus. „Eine höhere Ausbildung hätte ich auf jeden Fall gemacht", sagt die Grafikdesignerin. Ihren Eltern sei es sehr wichtig gewesen, dass beide Töchter studieren.

Wissenschaftliche Untersuchungen zu Stadt-Land-Unterschieden bei Migranten gibt es kaum. Der Würzburger Bildungsforscher Heinz Reinders erklärt das mit „forschungsökonomischen Gründen". Auf dem Land leben einfach deutlich weniger Migranten. Da gebe es dann vielleicht den Dorfitaliener oder den Griechen, der die Vereinsgaststätte betreibt. Für repräsentative Vergleiche sei das zu wenig.

Immerhin, 2011 stellten die Frankfurter Bildungsforscher Thomas Kemper und Horst Weishaupt in einer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen fest: Wo weniger Migranten leben, werden diese eher in Förderschulen überwiesen. So haben ausländische Schüler im ländlich geprägten Landkreis Steinfurt ein vier Mal so hohes Risiko, in einer Förderschule zu landen, wie ausländische Schüler in der Stadt Dortmund. Mit staatsangehörigkeitsspezifischen Faktoren lässt sich dieser Unterschied den Forschern zufolge nicht erklären. Vielmehr sehen sie in den Unterschieden eine „Form institutioneller Diskriminierung".

Als Yeter in die neunte Klasse kommt, empfehlen ihr die Lehrer den einfachen Hauptschulabschluss. Sie aber macht den qualifizierten, Notendurchschnitt: 2,8. Das Arbeitsamt legt ihr eine berufsvorbereitende Maßnahme nahe. Sie sucht sich eine Lehrstelle. „Ich will doch lernen", sagt sie sich, beginnt im Einzelhandel und wird dort als Küchenplanerin übernommen. Als sechste von acht Geschwistern ist sie die erste, die eine Ausbildung erfolgreich abschließt.

Der Bildungsforscher Reinders glaubt nicht, dass Lehrer auf dem Land Kinder mit Migrationshintergrund eher diskriminieren als in der Stadt. Für wahrscheinlicher hält er, dass sie eher mit ihren deutschen Mitschülern verglichen würden. „Sprachdefizite fallen auf dem Land mehr ins Gewicht", sagt er. Ein Lehrer neige dort vielleicht schneller dazu, zu sagen: „Da ist nichts mehr zu holen", als in Klassen mit 60 Prozent Migrantenanteil.

Vielleicht ist auch das der Grund, warum Yeter die zweite Klasse wiederholen muss. Die erste, sagt sie, habe sie im Alleingang gemeistert. Ihre Eltern sind ihr keine große Hilfe, nie hat sich jemand zum Deutschpauken mit ihr hingesetzt. Für die Klassenkameraden ist sie „einfach zu blöd für die Schule", dass ihre Probleme von mangelnden Sprachkenntnissen herrühren, interessiert die Mitschüler kaum. Eine deutsche Wohnung sieht sie zum ersten Mal bei einem Kindergeburtstag. „Es hat dort so anders gerochen", erinnert sie sich.

Ufuk dagegen hat fast nur deutsche Freunde auf dem Kleinstadtgymnasium, das die Eltern für sie ausgesucht haben. Sie macht Abitur, geht mit Klassenkameraden auf Volksfesten feiern. Wie man das eben so macht auf dem Land. Sie studiert in Coburg und Ankara Produktdesign, macht ein Praktikum in Holland, lernt dort ihren ersten Freund kennen, reist ein halbes Jahr durch Australien, lebt und arbeitet in Shanghai.

Erst als sie von dort zurückkommt, wird sie in München mit ihrem Migrationshintergrund konfrontiert. „Hey, du sprichst ja gut Deutsch", hört sie mehrmals. Anfang des Jahres zieht sie nach Zürich zu ihrem neuen Freund, sucht monatelang eine Wohnung. Sie fragt sich, ob es auch an ihrem Namen liegt. "In der Stadt wird man schneller in eine Schublade gesteckt", ist ihr Eindruck. Im niederbayerischen Pfeffenhausen der Achtzigerjahre dagegen sei ihr Exotenstatus viel zu groß gewesen.

Auch Yeter weiß, wie es ist, die einzige Türkin in der Klasse zu sein. Ihr "Exotenstatus" ist allerdings eher negativ assoziiert: Die einzige sein, deren Eltern nicht Deutsch sprechen. Die einzige sein, die Bayram feiert, aber nicht Weihnachten; die einzige sein, die in den Förderunterricht geht. Solche Erfahrungen will sie ihren Kindern ersparen. Die älteste, Dilara, ist fünfeinhalb, sie spricht fließend Deutsch und versteht Türkisch. Wenn sie türkisch spricht, dann mit deutschem Akzent. Wie ihre Mutter wächst auch Dilara auf dem Land auf. Nach der Hochzeit ist Yeter zu ihrem Mann gezogen: ins Taubertal, sie hat Hopfenfelder gegen Weinberge getauscht. Vielleicht werden die beiden bald ein Haus dort kaufen – natürlich auf dem Land. 

Text: veronika-wawatschek - Foto: katblum/photocase.com

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