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Kunstfigur statt Künstler

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Joe Rilla sieht aus wie Hooligan, rappt wie ein Hooligan und rappt über Hooligans. Hagen Stolle, so heißt der bekennende Ossi mit bürgerlichem Namen, ist das neueste Gewächs aus dem Hause Aggro Berlin. Dieses Mal geht es um den Osten, dem Joe Rilla nun einen Teil seines verlorenen Stolzes zurückgeben soll. Noch näher auf den Rapper einzugehen, würde einen performativen Widerspruch mit dem Tenor dieses Textes erzeugen. Deshalb genug von Joe Rilla, dafür mehr von Aggro Berlin, seinem Label. Nostalgie ist fehl am Platz, wenn es um die Entwicklung von Musikszenen geht. Die folgt wie fast alles andere marktwirtschaftlichen Gesetzen. Niemand hat das besser begriffen als Specter, Spaiche und Halil, als sie 2001 das Label Aggro Berlin „mit einem Startkapital, bei dem uns jeder Betriebswirt für Selbstmordkandidaten gehalten hätte“, gründeten. Wer wie ein Major-Label verkaufen will, muss auch so funktionieren. Kein anderes Label hat die Hiphop-Szene Deutschlands so nachhaltig verändert. Vor Aggro war „Sellout“ eine Art Totschlagargument, zumindest im aktiven Teil der Szene. Der Vorwurf besagte: Der macht die Musik nur wegen des Geldes. 1993 brachte Main Concept diese Stimmung mit dem Song „Geld ist mir scheißegal – ich bleib im Untergrund“ auf den Punkt. Absurd, weltfremd und irgendwie auch niedlich klingt das heute, wo der finanzielle Erfolg zum Mittel, Zweck und Ziel geworden ist. Aggro Berlin hat nicht die Provokation entdeckt. Aber es war das erste Label, das die Provokation als professionelles Vermarktungsmittel einsetzte. Bevor Bushido im Streit Aggro Berlin verließ und zu Universal wechselte, erschien hier sein erstes Album "Vom Bordstein bis zur Skyline". Keiner vor ihm verstand es so gut, das Image des harten Jungens arabisch-türkischer Herkunft so sehr zu spielen. 2004 kam Sidos Debut „Die Maske“ mit dem „Arschficksong“ auf den Markt. Alle Songs behandelten explizit die Themen Drogen, Gewalt und Sex: Tabus, die, wenn auch schon zig-Mal auf intelligentere Weise gebrochen, immer noch genug Leute schockieren. Das nächste Stereotyp bildete der sonst eher farblose Rapper Fler mit seinem Album „Die neue deutsche Welle“. Untertitel in Fraktur: „Ab 1. Mai wird zurückgeschossen“. Fler („Blaue Augen, weiße Haut, tätowiert und breit gebaut“) verkaufte mit seiner gekünstelten Deutschtümelei 80.000 Alben. B-Tight alias „Der Neger“ provoziert mit pseudo-rassistischen Textzeilen wie „Wer hat das Gras geraucht? Der Neger! Es fing schon in der Schule an, der Neger war der Drogenmann, der, der alles von Hasch bis LSD besogen kann“). Der Verein „Brother Keepers“, ein Zusammenschluss von Künstlern und Musikern, versuchte gegen diese Art von Texten zu protestieren. Aggro konterte: B-Tight sei doch selbst schwarz. So macht sich jeder zum spießigen Spielverderber, der die Texte der Rapper ernst nimmt und kritisiert. Schließlich sagt man auf dem Pausenhof „Neger“, benutzt „schwul“ als Schimpfwort und macht Witze, die nicht politisch korrekt sind. Auch wenn die Provokationsmaschine manchmal wie im Fall von G-Hot, der in einem Lied offen zum Mord an Schwulen aufrief, schief läuft – meistens geht das Konzept auf. Fler, Sido – und jetzt auch Joe Rilla stehen gleichzeitig in den Charts und in den Feuilletons. Da sind acht Indizierungen in drei Jahren durchaus zu verkraften. Natürlich ist bei Aggro Berlin niemand rechtsradikal, schwulen-, frauen- oder schwarzenfeindlich. Dort weiß man einfach sehr genau, was man tun muss, um in den deutschen Medien Aufmerksamkeit zu erregen: Hitler, Sex und Drogen. Joe Rilla reiht sich in seiner Rolle als Ost-Prolet aus Marzahn nahtlos ein. Auf einmal sollen Bockwurstesser mit Pitbullterrier ihre soziale Stimme erheben - beziehungsweise zu potenziellen Käufern werden. „Jeder engagierte Künstler muss sich bei Aggro Berlin als Stereotyp versklaven lassen“, sagt der Autor Hannes Loh. Der war früher selbst Mitglied der linksradikalen Hiphop-Gruppe „Anarchist Academy“. Das mag zwar in seiner Formulierung zu drastisch sein, trifft aber den Kern der Label-Politik ziemlich genau. Aggro Berlin produziert weniger Künstler als Kunstfiguren. Mit der Realität hat das längst nichts mehr zu tun. Nicht einmal im amerikanischen Hiphop, der immer wieder zur Rechtfertigung für Kommerzialisierung und Kompromisslosigkeit herangezogen wird, geht es so explizit um Gewalt und Sex. Im November vergangenen Jahres machte Aggro einen weiteren Schritt in Richtung Professionalisierung. Es ging einen Vertriebsdeal mit dem Label Universal Deutschland ein. Erstes gemeinsames Projekt war Flers drittes Album: „Fremd im eigenen Land“. Ironischerweise trug einer der ersten deutschsprachigen Hiphop-Singles von Advanced Chemistry aus dem Jahr 1992 denselben Titel. Kaum zu glauben, was sich in der Zeit getan hat. Nur musikalisch nicht.

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