Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Kriegslektionen

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

"Wir lernten vor allem etwas über heroische Aktionen 'unserer' Seite"

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Maria Woloszczuk, 23, Grafikerin aus Katowice, Polen

"Ich habe vom Zweiten Weltkrieg erfahren, als ich ungefähr elf Jahre als war, in meinem fünften Grundschuljahr. Es war eine Geschichtsstunde mit meinem Lieblingslehrer. Er hat anders mit uns geredet, als die anderen Lehrer. Er hat uns eher Geschichten erzählt, anstatt und dazu zu zwingen, Daten auswendig zu lernen. Die Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, die er erzählte, handelten von patriotischen polnischen Menschen. Wir lernten vor allem etwas über den Warschauer Aufstand und andere heroische Aktionen "unserer" Seite. Es gab auch viele nationale Feierlichkeiten, bei denen unserer Direktor dann feierliche Reden über Patriotismus und die Opfer des Krieges hielt. Wir haben aber auch viel über die Konzentrationslager gesprochen.

Durch meinen Geschichtslehrer habe ich mich immer sehr für den Krieg interessiert. Er hat mir zum Beispiel Tagebücher von Menschen aus Konzentrationslagern gezeigt, die meisten waren Polen. Mein Wissen über die deutsche Seite war sehr bruchstückhaft. Ich habe damals nicht so richtig verstanden, warum das alles überhaupt angefangen hat. Ich habe Deutschland aber nicht als verantwortlich dafür empfunden, es gibt überall schlechte Menschen. Das kann man nicht auf ein ganzes Land übertragen.

Die Geschichte meiner Familie ist mit dem Krieg verbunden und wurde davon stark beeinflusst. Mein Urgroßvater war im Konzentrationslager. Das Dorf, aus dem meine Großeltern kamen, hatte vor dem Krieg ca. 1000 jüdische Bewohner. Fast alle wurden getötet.

Meine Großmutter hat mir mal erzählt, dass sie gesehen hat, wie zwei Soldaten eine junge Jüdin lebendig begraben haben. Und dass alle diese Leute nicht mal ein Grabmal bekamen. Ich wünschte, die Leute würden sich an all die Verstorbenen erinnern, anstatt irgendwem die Schuld zu geben. Zum Beispiel an dieses junge Mädchen."


>>> Yvonne aus Brasilien


"Deutschland war ‒ und ist immer noch ‒ mit Hitler verbunden"

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Yvonne, 30, Psychologiestudentin aus São Paulo, Brasilien

"Der Zweiten Weltkrieg war Teil des Geschichtsunterrichts, genauso wie der Erste Weltkrieg oder das antike Griechenland. Ich weiß noch, dass die Lehrerin das Thema sehr ernst genommen hat, aber es war nur ein Teil des Unterrichts, den ich für die Klausur lernen musste, und nicht wichtiger als andere Themen.

Ich habe schon mitbekommen, wie schlimm es war, aber es wirkte so weit in der Vergangenheit und Spuren, die der Krieg hinterlassen hat, habe ich in meinem alltäglichen Leben gar nicht wahrgenommen. Ich glaube, dass ich auch zu jung war, um genau zu verstehen was der zweite Weltkrieg bedeutet hat. Interessiert hat es mich trotzdem.

Über Brasilien wurde gesagt, dass es lange Zeit neutral war, aber aus ökonomischen und politischen Gründe mit den Aliierten verbunden war. Brasilien schickte Soldaten nach Europa, aber Verwandte von mir wurden nicht eingezogen. Die brasilianische Bevölkerung war auch nicht politisch aktiv.

Über Deutschland habe ich damals nicht so viel nachgedacht, aber Deutschland war ‒ und ist immer noch ‒ mit Hitler verbunden. Ich erinnere mich, dass erklärt wurde, wie Deutschland wieder auf die Beine gekommen ist, aber über das Land wurde auf jeden Fall mehr im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg gesprochen als über seine Entwicklung danach.

Da meine Oma nach dem Krieg aus Holland nach Brasilien migriert ist, habe ich ein bisschen mit ihr darüber gesprochen. Sie hat ein paar Erfahrungen von damals geteilt. Mein Opa ist auch migriert, hat aber mit mir nie darüber gesprochen."

>>> Eliran aus Israel



"Bei uns geht es nie zuerst um den Krieg, sondern immer um den Holocaust."

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Eliran, 31, Journalist und Fotograf aus Tel Aviv, Israel

"In Israel wird nie zuerst über den Krieg gesprochen. Sondern immer über den Holocaust. Über die sechs Millionen ermordeten Juden und die Nazis. Mit dieser Geschichte wachsen wir auf, meistens geht das so im Alter von acht Jahren los – je nachdem, ob die eigene Familie vom Holocaust betroffen war, oder nicht. In der High School sind wir auch nach Polen geflogen, um die Geschichten aus den Konzentrationslagern zu hören. Das Thema ist einfach so sehr mit unserer Geschichte verwachsen, dass es einem manchmal fast ein bisschen zu viel wird.

In der High School behandelt man dann zwar auch den Krieg an sich, allerdings eher als ein Thema unter vielen. Ich kann mich da auch nicht an große Diskussionen oder so erinnern. Wir haben eher Fakten gelernt – wie kamen die Nazis an die Macht, was gab es da für Propaganda, wie kann so etwas generell in einer Demokratie passieren?  Wenn ich jetzt also versuche, mir den Krieg abseits vom Holocaust vorzustellen, denke ich an große Truppen und Panzer, Leute, die auf zugefrorenen Feldern sterben. Vielleicht sind das aber auch Filmszenen, die ich da im Kopf habe.

Erst nach der Schule habe ich angefangen, mich richtig für den Krieg und seine Hintergründe zu interessieren. Und auch für Deutschland. Als ich mich später für ein Stipendium nach Deutschland beworben habe, habe ich in die Bewerbung reingeschrieben, dass wir in Israel mit einem sehr schlechten Bild von Deutschland aufwachsen. Wir sehen beispielsweise Filme wie „Schindlers Liste“, „Der Pianist“ oder „Das Leben ist schön“, in denen ein sehr stereotypisches Bild der deutschen gezeigt wird. Auch die deutsche Sprache hatte immer einen sehr harten und schlechten Ruf.

Heute, nachdem ich sechs Monate mit dem Stipendium in Deutschland war, denke ich ganz anders über das Land. Ich mag es richtig und habe auch viele deutsche Freunde. Ich schaue mir auch viel mehr Dokumentationen über das Land an, wie zum Beispiel „The flat“, den finde ich richtig toll."

>>> Farzaneh aus Iran



"Um den Holocaust ging es nie"

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Farzaneh, 28, Biologie-Studentin aus Teheran, Iran

"Ich habe zum ersten Mal vom Zweiten Weltkrieg gehört, als ich acht oder neun Jahre alt war. Ich habe im Fernsehen eine Serie angeschaut, "Die geheime Armee". Es ging um eine Gruppe von Menschen, die in einem Restaurant in Belgien arbeiten und heimlich englischen Piloten halfen, deren Flugzeuge in Belgien abgestürzt waren. Das war im Iran eine sehr beliebte Serie. Ich weiß nicht mehr, was ich für eine Vorstellung vom Krieg hatte, aber ich habe meinen Vater oft gefragt, ob so ein Krieg noch mal passieren könnte.

In der Schule haben wir ehrlich gesagt nie viel über den Krieg gelesen oder erfahren. Es gab schon ein paar Geschichtsstunden darüber, aber es ging vor allem um Irans Geschichte und Diplomatie. Als wir über Reza Shah gesprochen haben, der bis 1941 Shah von Persien war, ging es auch um den Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel darum, welche Länder wen unterstützt haben und was die iranische Reaktion war. Aber um den Holocaust ging es nie.

Ich war an dem Thema interessiert und gleichzeitig nicht interessiert. Nachdem ich ein paar Filme über den Krieg gesehen hatte, war ich neugierig, etwas darüber zu erfahren, aber ich fand es auch sehr gruselig und beängstigend. Das gilt zumindest für die Zeit als ich jünger war. Später in der High School wollte ich mehr darüber lesen.

Ich bin nicht ganz sicher über die Rolle, die mein Land gespielt hat. Ich glaube, wir haben gelernt, dass Reza Shah schnell klar gemacht hat, dass der Iran diesem Krieg neutral gegenüber steht und sich auf keine Seite geschlagen hat. Aber im Iran gab es einige Deutsche und England und Russland wollten, dass sie ausgewiesen werden. Reza Shah hat sich verweigert und wurde dafür angegriffen. England und Russland haben dann einige Teile des Irans okkupiert.

Seit Kurzem interessiere ich mich sehr für die Rolle normaler Menschen in diesem Krieg. Ich habe Artikel und einige Bücher darüber gelesen. Einige davon diskutieren, ob Hitler das alles ohne die Unterstützung der Gesellschaft hätte machen können."


>>> Ahmad aus Jordanien


"In meiner Klasse war ich derjenige, der am meisten vom deutschen Regime fasziniert war"


Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ahmad, 28,  Salesmanager aus Dubai (zur Schule gegangen in Zarqa, Jordanien)

"Als ich etwa zwölf Jahre alt war, haben wir in der Schule europäische Geschichte durchgenommen und dabei auch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Am besten erinnere ich mich an Bilder vom zerstörten London nach dem Angriff der Deutschen und an die Rolle der USA, die Atombomben über Japan abgeworfen und Europa vor einer kompletten Einnahme durch die Nazis und Faschisten bewahrt haben. Wir haben uns meistens gefragt, warum Deutschland in alle anderen Länder eingefallen ist, weil uns die Ideologie hinter dem Nazi-Regime nie vollständig erklärt wurde. Wichtige Fakten über den Holocaust und die angebliche Vormachtsstellung der arischen Rasse wurden nie im Detail analysiert. Im Unterricht ging es oft um Demokratie und darum, nicht unter einem Regime zu leben, das sein Volk unterdrückt. Ironischerweise war das die wichtigste Lektion, die man uns in der Arabischen Welt vermittelt hat. Der Holocaust wurde in den Büchern zwar erwähnt, aber Mitleid mit Juden ist in der arabischen Welt nicht gerade üblich.

Die Rolle meines Landes war die eines Zuschauers, wir waren ja damit beschäftigt unsere Freiheit vom zerbrechenden Britischen Kolonialreich zurück zu gewinnen. Der Krieg war weit weg, anders als der Erste Weltkrieg, in dem Jordanien geholfen hat, die Ottomanen zu unterlaufen.

Mich persönlich hat europäische Geschichte und die Geschichte der Weltkriege immer besonders interessiert, weil sie zentral für die Menschheit ist und viele Ideologien dahinterstecken. In meiner Klasse war ich derjenige, der am meisten vom deutschen Regime fasziniert war – nicht wegen der Nazi-Ideologie, sondern wegen dieser wahnsinnigen Leistung, das Land nach dem Esten Weltkrieg innerhalb von zwanzig Jahren wieder aufzubauen und als Weltmacht aufzutreten.

Es gibt bei uns viele Bücher über den Holocaust, aber nicht alle mit dem gleichen Standpunkt, weil der Holocaust wegen des Israelischen Krieges in der Arabischen Welt so ein sensibles Thema ist. Jordanien ist allerdings sehr abhängig von der amerikanischen Kultur und wir haben die amerikanischen Meinungen über Nazis, Faschisten und Kommunisten übernommen – was ein verzerrtes Bild der Realität ist.

>>> Lukas aus den USA


"Die USA wurden in der Schule immer als Held dargestellt, der alles rettet"

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Lucas, 31, aus Milwaukee, USA

"Das erste Mal habe ich in der siebten Klasse im Geschichtsunterricht bewusst etwas über den Zweiten Weltkrieg gelernt und darüber nachgedacht. Ich glaube, der Schwerpunkt lag hauptsächlich auf Pearl Harbor und der Atombombe. Wir haben das Buch "Hiroshima" von John Hersey gelesen, das sich eingehend mit den Auswirkungen und Folgen der Bombe beschäftigt, ich musste mich also nicht allzu sehr anstrengen, um mir das vorstellen zu können. Das war eine grauenvolle, entsetzliche Sache. Ich habe mich gefragt, wie man Menschen so etwas antun kann. Wir haben ein bisschen was über den Holocaust gelernt, aber viel weniger detailliert als später, als wir schon älter waren. Wir haben auch "Number the Stars" von Lois Lowry gelesen und die Verfilmung von "Das Tagebuch der Anne Frank" angeschaut. Allein der Gedanke, dass Menschen andere Menschen so behandeln, war furchtbar.

In der High School hatten wir hauptsächlich Bücher mit Texten zum Thema, die wir durchgingen, und die Lehrer haben die Punkte näher ausgeführt, die ihnen wichtig erschienen. Die Texte haben vor allem Eckpunkte abgedeckt wie den Ausbruch des Krieges, der Eintritt der USA, die wichtigsten Schlachten, die Kristallnacht, die Konzentrationslager und so weiter. Es gab auch viele Bilder von der NS-Armee, einige Videos von Hitlerreden und schreckliches Filmmaterial aus den Konzentrationslagern.

Die Aktionen meines Landes wurden als eine Art "notwendiges Übel" vermittelt. Die USA wurden in der Schule immer als der Held dargestellt, der alles rettet – was natürlich längst nicht immer der Fall ist. Den Vietnamkrieg haben wir auch nicht besonders eingehend durchgenommen.

In den Medien gibt es sehr viel über den Zweiten Weltkrieg. Die berühmtesten Filme sind wahrscheinlich "Schindlers Liste" und "Das Tagebuch der Anne Frank". Bekannte Bücher zum Thema sind "Slaughter House Five" und "Catch-22". Und es gibt endlos viele Videospiele, in denen Nazis die Feinde sind, aber ich glaube, die sind nicht wirklich informativ.

Text: nadja-schlueter - und Pia Rauschenberger / Fotos: oH

  • teilen
  • schließen