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"Klar, kenn ich!"
Wir trinken Bier, der Bärtige und ich, und es ist sehr laut um uns herum. Hollywood heutzutage, sagt er, sei ja auch nichts mehr wert. Die wenigsten dort seien wirklich talentiert, und wenn doch, kämen die meistens von woanders. Christoph Waltz, sagt er dann und fuchtelt begeistert mit seinen großen Händen, der sei ja einer von den Guten, das wüsste man spätestens seit "Inglorious Basterds". Den hätte ich doch gesehen, oder?
"Klar", höre ich mich antworten.
Das stimmt nicht. Aber ich mag, wie gut der Bärtige sich auskennt. Und überhaupt wie er aussieht, wenn er redet. Ich möchte einfach nicht, dass er damit aufhört. Dass ich den Film gar nicht gesehen habe, ließe sich natürlich schnell mit ein paar pointierten Fragen herausfinden. Die stellt der Bärtige aber nicht. Es ist nun mal nirgends so leicht, Wissen vorzutäuschen wie in der Popkultur - und nirgends ist es so sozial verträglich.
"Kennst du den Track?" - "Ja, schonmal gehört."
"Und das Buch?" - "Ui, lange her."
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Kulturlüge geht nicht nur leicht von der Hand - sie macht auch jedes Gespräch besser!
Wissenslücken zu verschleiern ist nicht nur leicht, sondern auch sinnvoll. Denn ein gutes Gespräch fühlt sich an wie eine Karussellfahrt; der eine sagt etwas, dann der andere, woraufhin der eine sich wieder einschaltet und immer so weiter, bis niemand genau sagen kann, wer eigentlich gerade schiebt und wer zieht, und wie alles überhaupt angefangen hat. So geht gute Konversation. Ein "Kenn ich nicht" bringt im schlimmsten Fall alles zum Stehen - auf jeden Fall aber macht es alles flacher.
Denn die kleine Lüge sichert die Qualität, die inhaltliche Substanz. Einem unwissenden Zuhörer wird bloß hastig und oberflächlich der Plot oder der Musikstil beschrieben - der andere könnte ja jederzeit das Interesse verlieren. Wer meint, der andere wüsste, worum es geht, verleiht dem Gespräch dagegen eine ganz andere Tiefe. Statt zum Beispiel erst mühsam erklären zu müssen, wer Lolita ist und worum es in dem gleichnamigen Roman geht, kann man gleich da einsteigen, wo es interessant wird. "Sie isst einen roten Apfel", heißt es dann etwa," einen roten Apfel! Und sie sitzt auf seinem Schoß und er singt dieses Lied – das ist alles so unfassbar zweideutig!"
Am besten klappt das natürlich bei Werken, die so bekannt sind, dass jeder davon ausgeht, man kenne sie. Das sind die, über die man auch dann genug weiß, wenn man sich selbst nie mit ihnen beschäftigt hat. Etwa "Pulp Fiction" oder eben "Lolita".
Auf einer Party brauche ich keine echten Infos über einen Film - es geht nur um die persönliche Leidenschaft des Gesprächspartners.
Wer wagemutiger ist, kann das aber noch weiter treiben. Und im Getümmel einer WG-Party dem Typen, der da enthusiastisch von einer unbekannten Indie-Band aus Norfolk erzählt, entgegnen: "Kenn ich, klar!" Im schlimmsten Fall fällt das auf. Dann sollte man möglichst eine gute Strategie vorbereitet haben, um sich da wieder rauszumanövrieren: "Ach, Golden Crisis? Sorry, ich hab Oasis verstanden. Ist aber auch laut hier, haha!" Im besten Fall entwickeln sich so aber die allertollsten Gespräche. Weil die Unterhaltung ja gleich eine ganz andere ist, wenn das Gegenüber sich verstanden fühlt. Von Experte zu Experte, sozusagen.
Und seien wir mal ehrlich: Es gibt kaum eine bessere Möglichkeit, jemanden kennenzulernen. Auf einer Party brauche ich über einen Film oder eine Band erstmal keine echten Infos, die kann ich später auch auf Wikipedia nachlesen. Im lockeren Gesprächskarussell will ich vielmehr wissen, warum der andere genau diese Band so abfeiert oder warum dieser Roman jetzt der Beste der letzten fünf Jahre ist! Die Wahrheit ist doch: Es gibt wenig schöneres, als euphorischen Menschen zuzuhören. Weil sie uns mit Leidenschaft Dinge schmackhaft machen, mit denen wir uns selbst nicht auskennen, die uns danach aber tatsächlich interessant erscheinen. Weil so viel gebündelte Energie sexy ist - selbst wenn sie sich auf einen bulgarischen Bildungsroman oder das vorletzte Live-Album von Prince bündelt.
Während der Bärtige also weiter von "Inglorious Basterds" erzählt, mit wilden Gesten und leuchtenden Augen von Szenen schwärmt, die mir nichts sagen, ist er für mich der interessanteste Mensch der Welt. Ich bin von der Leidenschaft gebannt, und die kleine Lüge, die diese Situation eingefädelt hat, ist längst nicht mehr wichtig. Ich möchte gerade nur eines: den Bärtigen küssen. Und danach, vielleicht auch erst morgen, "Inglorious Basterds" schauen. Dabei mag ich gar keine Zombie-Filme.
Text: kristin-hoeller - Illustration: Katharina Bitzl