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Keiner will wählen
526 von 48 Millionen. Man muss den Prozentsatz nicht ausrechnen, um zu wissen, dass das sehr, sehr wenige sind. 526 – so viele Fans haben die Sozialwahlen 2011 auf Facebook. 48 Millionen Menschen in Deutschland sind bei der Sozialwahl wahlberechtigt.
Diese 48 Millionen Menschen finden in diesen Tagen in ihrem Briefkasten ein Schreiben mit dem Aufruf, an der Sozialwahl teilzunehmen. Darauf prangt ein kleines Logo mit einem Briefkuvert. Das Kuvert ist rot, hat zwei Augen und einen Smiley-Mund, und es lächelt ganz freundlich. Das hat es nötig, denn es muss auf sich aufmerksam machen und schleimen. Der Aufruf zur Sozialwahl wird nämlich meistens einfach weggeworfen, zusammen mit dem Haufen unerwünschten Papiers, der einem jeden Tag in den Briefkasten geworfen wird: die Werbung vom Asia-Imbiss oder das Magazin des ADAC.
Ausschnitt aus einem Erklärvideo. Der desinteressierte junge Mann will den Brief wegschmeißen, die Putzfrau bekehrt ihn zum Sozialwähler.
Was die Zahl der Wahlberechtigten angeht, spielt die Sozialwahl in einer Liga mit Bundestags- und Europawahlen. Dennoch interessieren sich nicht viele Menschen dafür. Dass die Facebook-Seite keine Fans hat: geschenkt. Das ist egal und wohl auch nicht allzu aussagekräftig. Dass bei der letzten Sozialwahl im Jahr 2005 die Wahlbeteiligung nur bei lächerlichen 30 Prozent lag, ist hingegen ein Indiz, dass die Wahl den Bürgern nicht gerade am Herzen liegt. Und es war schon mal schlimmer: 1968 wählten nur 20,5 Prozent, daraufhin wurde die Sozialwahl zur Briefwahl umgewandelt. Inzwischen tendiert die Wahlbeteiligung trotzdem wieder gen Rekordtief. Politologen wie Frank Nullmeier vom Zentrum für Sozialpolitik an der Uni Bremen sprechen sich deshalb für eine Online-Wahl aus. Nullmeier hat mit Kollegen aus der Wissenschaft im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums untersucht, wie der unpopulären Wahl ein bisschen Leben eingehaucht werden könnte. Vereinfachung durch eine Onlinewahl sei das eine, sagt er. „Aber das Grundproblem wird dadurch alleine nicht behoben. Den meisten Leuten ist die Funktion der Wahl einfach nicht klar.“ Sie wissen nicht, was diese Wahl überhaupt soll, wen sie dort wählen sollen und inwiefern sie das Ergebnis der Wahl betrifft.
Also: Was wird da gewählt?
Die Sozialwahl ist die Wahl der Parlamente der Sozialversicherung. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherungen bestimmen Menschen, die in den Selbstverwaltungsgremien der Kassen ihre Interessen vertreten sollen – eine Art Lobbyisten der Versicherten also.
Wie läuft die Wahl ab?
Man wählt per Post. Bis spätestens 1. Juni muss der Brief ankommen. Zur Wahl stehen – wie bei der Zweitstimme der Bundestagswahl – keine Einzelpersonen, sondern Listen. Mit Parteienpolitik hat das Ganze aber nichts zu tun. Die meisten Listen werden von Verbänden und Gewerkschaften aufgestellt. Problem: Es ist nicht ganz leicht, unterschiedliche Positionen auszumachen, weil kein Wahlkampf stattfindet. „Wahlen leben davon, dass über Themen und Personen gestritten wird“, sagt Nullmeier. Bei den Sozialwahlen gebe es aber „keine Politisierung von Themen“ und es werde „kaum versucht, sich mit einem Programm zu positionieren.” Die Hauptforderung von Nullmeiers Gutachten ist deshalb, die Vorherrschaft der Gewerkschaften im System Sozialwahl aufzubrechen und auch Sozialverbände und Patientenorganisationen zuzulassen.
Was machen die Gewählten eigentlich?
In der Rentenversicherung beispielsweise ist die Vertreterversammlung zur Hälfte mit den Kandidaten der Sozialwahl besetzt, zur anderen Hälfte mit Arbeitgebervertretern. Die Versammlung wählt und kontrolliert den Vorstand und die Geschäftsführung. Bei den Krankenkassen – hier heißen die Gremien Verwaltungsräte – dürfen sie außerdem bei heiklen Fragen wie Zusatzbeiträgen oder Bonusleistungen für die Versicherten mitreden.
Wie viel Einfluss haben sie wirklich?
Glaubt man den Aufrufen und Broschüren der Sozialwahl und der Putzfrau in dem Erklärvideo auf sozialwahl.de, ist der Einfluss der Versichertenvertreter groß: Den „hohen Damen bei der Krankenkasse werd auf’d Finger g’schaut“, sagt die Putzfrau. In einer Broschüre der Rentenversicherung heißt es: „Bei wichtigen Entscheidungen führt kein Weg am Parlament vorbei“. Hier werde entschieden, „wie das Geld ausgegeben wird“. Den umstrittenen Krankenkassen-Zusatzbeitrag von 8 Euro konnten die Versichertenvertreter aber nicht aufhalten, bemängeln Kritiker. Und bei der Frage, die aus Sicht der Versicherten die interessanteste ist, haben sie auch nichts zu sagen: Die Höhe der Beiträge legt die Bundesregierung fest. Dennoch: Auch Politologe Nullmeier bestätigt den Gremien eine wichtige Rolle. „Das sind beschlussfassende Organe, und es geht um wichtige Entscheidungen mit riesigem finanziellen Volumen.“
Vielleicht sollte man die Post doch ein bisschen genauer durchschauen.
Text: christian-helten - Foto: Screenshot