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„Iss doch mal was, Mädel!“

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Ich hatte zu Schulzeiten eine Freundin, die in der Öffentlichkeit nie Zuckerwatte aß, weil sie die Blicke der Leute meiden wollte. Zugegeben: Die Dünnste war sie nicht, aber übertrieben fanden wir anderen Mädchen ihre Haltung schon. Weil alle aber ihre Komplexe respektieren, gingen wir mit unseren Kalorienbomben statt durch die Menschenmenge die leere Seitengasse entlang.

Noch viel mehr Freundinnen hatte ich aber, die sich außerhalb von Schwimmbecken sofort in ein Handtuch einwickelten. Und das nicht etwa, weil sie froren: Sie schämten sich für ihre angeblich speckigen Bäuche, die beim Sitzen Falten warfen und an deren Stellen sich beim Aufstehen wieder rote Linien abzeichneten. Oder für die sich langsam aber sicher anbahnende Cellulite.



Man möchte meinen, dass mit dreizehn sowieso etwas kaputt im Kopf ist. Also in dem Alter, in dem die erstem Pickel sprießen, man seine Tage bekommt, Magazine mit mageren, aber engelsgleichen Vorbildern entdeckt und vor lauter Hormonen gar nicht mehr weiß, was man von sich und der Welt halten soll. 

Doch bis heute bestätigt sich meinen Beobachtungen nach die Regel, dass das Klagen übers Dicksein vollkommen in Ordnung bis bemitleidenswert ist, und dass das Klagen übers Dünnsein eine unüberschaubare Vielfalt an Entrüstungen auslöst – in allen Altersgruppen und unabhängig von der Bildung.

Als ein „kulturelles Problem“, würden Kulturwissenschaftler vermutlich das Phänomen der Ungleichbehandlung erklären, als ein „Steinzeit-Überbleibsel“ die Verfechter der Evolutionsbiologie und als ein „tief sitzender Vaterkomplex“ Sigmund Freud, weil die runde Mutter ja lieb und gut, der männliche, meistens nicht so runde Vater hingegen beängstigend ist.

Denn immer, wenn ich damals zwischen dem ganzen „Ich-bin-zu-dick“-Geheule auspackte, dass ich genau unter dem Gegenteil litt, nämlich meinen Steckerlbeinen und meinen fehlenden Rundungen, die eine Frau erst zur Frau machen, kamen Bemerkungen wie „Mensch, du hast Probleme“ zurück. Gefolgt von einem Augenrollen. Oder ein „Ja schau mich mal an“. Der ironische Unterton machte es nicht besser. 

Dabei waren das noch die charmantesten Kommentare. Im Sportunterricht wollten einige keine Partnerübungen mit mir machen, weil – und das sagten sie betont spaßhaft mit einem Ellbogenschlenker – ich ja so dünn wäre, dass ich schon von einem Pusten umfallen würde. Oder sie mir ungewollt die Knochen brechen würden. Was natürlich Quatsch war. Oder man wies mich darauf hin, dass ich doch mal was essen soll, weil so wie ich aussehe, das könne ja nicht gesund sein.

Demonstrativ aß ich also, wenn ich mit anderen Leuten zusammen war, besonders viel und besonders viel Ungesundes, nur um zu beweisen, dass ich keine Essstörungen hatte. Darauf sprachen mich manche nämlich auch an, und zwar nicht sorgenvoll unter vier Augen, sondern unverblümt in aller Öffentlichkeit.

Als ich dann mit vierzehn einen Internetanschluss bekam, durchstöberte ich stundenlang Foren. Ich wollte wissen, wie man am besten zunimmt. Ich wollte genauso normal und weiblich sein, wie alle anderen Mädchen. Mit fünfzehn zwang ich mich ein halbes Jahr lang dazu, fast ausschließlich Fastfood und Milchprodukte zu essen. Ich nahm keinen Gramm zu.

Mit sechzehn fand ich heraus, dass Muskelmasse schwerer ist als Fettmasse und trieb exzessiv Sport. Dick wurde ich auf diese Weise natürlich nicht, aber ein halbes Kilo mehr verzeichnete ich bald stolz auf meiner Waage. Doch ich wollte mehr.

So ging ich mit siebzehn zum Arzt. Der sagte mir, dass ich einen besonderen Stoffwechsel hätte. Er versicherte mir aber nach einer Ultraschalluntersuchung, dass meine Schilddrüse in Ordnung war und dass sich mein BMI zwar an der Untergrenze befand, aber noch im medizinisch unbedenklichen Bereich. Um zuzunehmen empfahl er mir viel Käse, Nüsse und Trockenobst zu essen. Studentenfutter wurde mein bester Freund.

Im Laufe der Zeit hörte mein Wahn auf, unbedingt voluminöser werden zu müssen. Das ist so ähnlich wie das Phänomen, dass viele Lockenköpfe lieber glatte Haare hätten und umgekehrt: Irgendwann gibt man sich mit dem ab, was man hat. Auch wenn es wenig ist.

Spurenlos gingen meine Pubertätsproblemchen allerdings nicht an mir vorbei. Noch immer trage ich gerne weite Pullis und vermeide es, mein knochiges Dekolletee in der Öffentlichkeit zu zeigen. Und ich habe gelernt, über das Dünnsein zu schweigen. Ein bisschen beneide ich auch noch kurvige Frauen. Ich hasse es, Dessous einkaufen zu gehen und im Tanzstudio fühle ich mich vor der Spiegelwand wie ein Strich in der Landschaft. Und insgeheim träume ich manchmal davon, dass sich mein Körper eines Tages wie durch ein Wunder aufbläst und ich eine kugelrunde, pausbäckige, Kuchen backende Oma werde.

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