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In der Stadt der toten Dosen
Klicker-klacker, klicker-klacker. Der schmale Typ mit der schwarzen Hornbrille und dem sauber gestutzten Bärtchen schüttelt routiniert seine Sprühdose, bevor er ein paar olivgrüne Seifenblasen auf seinen Schriftzug setzt. KET lesen sich die dicken verschnörkelten Lettern. "Alles legal hier", versichert Alain Mariduena. Unter seinem Käppi perlen die Schweißtropfen, es hat bereits knapp 30 Grad an diesem Sommermorgen an der Nordspitze Manhattans und bis auf ein paar Schulkinder scheint niemanden den Künstler bei der Arbeit zu beachten: "Die Wand gehört zum Waschsalon um die Ecke. Die haben mich beauftragt, ein bisschen Farbe auf den Putz zu bringen - solange es nicht provoziert." Ob die risikolose Auftragsarbeit den einstigen Untergund-Sprüher wirklich zufrieden stellt? Bis die Vandalismustruppe der Polizei ihn in Handschellen abführte, sah es aus, als ob KET erwachsen geworden wäre. KET ist der nom de guerre von Alain Mariduena, einem Graffiti-Künstler der sich schon im New York der 80er Jahre einen Namen machte. Damals besprühte der Teenager aus Brooklyn ganze U-Bahn-Waggons, hinterließ auf Nahverkehrszügen von München bis Kopenhagen seine "pieces", und bekam als Autorität der blühenden Graffiti-Szene Rede-Einladungen von Universitäten. Es sah aus wie eine Traumkarriere: Statt weiterhin Spraydosen klauen zu müssen, heuerten MTV, Atari und Moet Chandon den Mann als künstlerischen Berater an. Der Modestar Marc Ecko engagierte ihn 2001 als Herausgeber seines Magazins Complex und ließ ihn später das populäre Graffiti-Videospiel "Getting Up: Contents Under Pressure" entwerfen. Alles hat er gemacht - nur illegal gesprüht hatte KET in den zehn Jahren seit der Geburt seiner Tochter angeblich nicht mehr. Dann aber stürmten die Cops an einem frühen Oktobermorgen des Jahres 2007 sein Apartment, beschlagnahmten Computer, Kameras und 3000 Dosen Sprühfarbe. Anschließend sah sich Alain Mariduena mit der Anklage dreier New Yorker Staatsanwälte konfrontiert. Man habe nicht nur mehrere "pieces" mit seinem charakteristischen Namenszug an U-Bahn-Waggons gefunden, sondern auch festgestellt, dass nur Stunden nach der Tat Fotos dieser Graffitis auf seinen Rechner geladen wurden. KETs Fall sorgte Amerika-weit für Schlagzeilen. Und die New York Times erinnerte an den langen Kampf zwischen der Stadtverwaltung und den illegalen Straßenkünstlern: Nach gut zehn Jahren, in denen bunt besprühte Züge zu den umstrittenen Attraktionen des Big Apple gehörten, zog die New Yorker U-Bahnverwaltung 1989 die Notbremse. Jeder "verunstaltete" Waggon wurde sofort aus dem Verkehr gezogen und chemisch gereinigt. Wer es trotz Maschendrahtzäunen, Flutlichtanlagen, Wachhunden und Bewegungsmelder weiterhin wagte, mit einem Sack voller Sprühdosen in die U-Bahn-Depots einzudringen, riskierte empfindliche Haftstrafen. Laut der "Broken Window Theory" hingen Graffiti und Verbrechen eng zusammen. Und so verschwanden nicht nur der Müll und die Obdachlosen von der Straße - sondern auch die Schriftzeichen. Die "Hässlichkeit von Graffiti", so der New Yorker Bürgermeister Rudi Giuliani, und "ihr Angriff auf unsere Sinne und Geldbörsen müssen gestoppt werden." Eine Stadt nimmt Rache Mariduena erinnert sich daran, wie er 1985 anfing, Graffiti zu fotografieren: "In der High School erzählten die Writer ständig von ihren Abenteuern. Damals gab es für mich nichts Schöneres, als auf einem Bahnsteig in Brooklyn zu sitzen und plötzlich tauchte völlig unerwartet ein Kunstwerk vor mir auf. Billiger und viel besser als im Museum!" Ein Jahr später greift er selbst zur Sprühdose. Damals, so der Sohn puertoricanischer Einwanderer, habe New York noch einem Dschungel geglichen, sei er nur mit Eispickel und Machete bewaffnet zur Schule gegangen. Andererseits habe eine Offenheit geherrscht, "die den Leuten erlaubte, sich künstlerisch auszudrücken." KET hat inzwischen die letzte Seifenblase aufgesprüht und blickt von einer Parkbank aus auf den frischen Namenszug. Nein, dieser Auftrag sei eine Ausnahme. Die Erfolge des Briten Banksy und der Streetart Boom in den Galerien hin oder her: In New York gebe es kaum romantische Gefühle für die Graffiti-Bewegung. Stadtverwaltung und Polizei hätten diese Kunst zu lange als Vandalismus dämonisiert, Politiker auf Stimmenfang attackierten routinemäßig Graffiti-Writer. Auch deswegen habe er in den 90er Jahren das Magazin Stress ins Leben gerufen: "Ich wollte der Szene ein politisches Forum verschaffen." Das, so glaubt Mariduena, sei der eigentliche Hintergrund für seine Verhaftung gewesen. Der 37-jährige redet schnell, eloquent - und setzt dabei jedes Wort so sorgfältig, als stünde der Staatsanwalt gleich hinter der Parkbank. Sechs Tage saß er hinter Gittern. Bis seine Freunde die Kaution von 65 000 Dollar zusammengekratzt hatten. Dann begann ein Prozess, in dem Mariduena 42 Jahre Gefängnis drohten: Als Sühne für insgesamt 14 Straftatbestände, von Sachbeschädigung bis zum unerlaubten Betreten städtischer Grundstücke. "Sie wollten an mir ein Exempel statuieren. Weil ich durch meine Arbeit bei Marc Ecko für die Stadt zum schwarzen Schaf geworden bin." So hatte Mariduena nicht nur das erwähnte Videospiel "Gettin' Up" als virtuelle Simulation durch NY ziehender Graffitisprüher gestaltet, sondern auch noch gewagt, zur Premieren-Party einen nachgebauten U-Bahn-Waggon von berühmten Writern besprühen zu lassen. "Wir mussten damals vor Gericht um die Erlaubnis dafür kämpfen. Die Stadt verlor den Prozess - und hat den Krieg gegen die Graffiti seitdem verschärft." Ein Feldzug, der niemals ganz zu gewinnen ist. Bei jeder U-Bahn-Fahrt auf erhöhten Gleisen durch die Stadt sieht man immer noch Tausende anarchisch gesprühter Buchstaben und Figuren auf Hauswänden, Kaminen und Dächern. "Heute," erklärt KET, "reisen Sprayer aus aller Welt an, um einmal in ihrem Leben ihre Signatur im Mekka des Graffiti zu hinterlassen." Warum er denn selbst wieder das illegale Sprühen angefangen habe? Der sonst so eloquente Sprüher ringt nach den richtigen Worten: "Während der Entwicklung von 'Gettin' Up' arbeitete ich mit aktiven Graffitikünstlern zusammen. Sie zeigten mir Fotos ihrer neuesten Pieces. Da habe ich das Adrenalin gespürt." Inzwischen haben Mariduenas Anwälte einen Vergleich erwirkt. Deren Argumentation, ein Graffiti von KET bedeute für jeden U-Bahn-Waggon eine deutliche Wertsteigerung, wollte zwar niemand folgen, doch der Sprayer kam mit einer Geldstrafe von 15 000 Dollar - Reinigungskosten für drei komplette Züge - weg. Plus 100 000 Dollar Anwaltskosten. Nun sitzt Mariduena auf einem Schuldenberg. Und doziert über die gesellschaftliche Doppelmoral, städtische Busse von oben bis unten mit Graffiti-Werbung für zu bedecken, während unbezahlte Sprayer zu Kriminellen gestempelt würden. Ganz persönlich hat Mariduena die Konsequenzen gezogen: Der Mann, den "in der kapitalistischen Markenwelt immer ein schlechtes Gewissen plagte", hat den Verlag "From Here To Fame" gegründet: "Ich kenne Graffiti-Pioniere, die halb vergessen in Sozialwohnungen, im Gefängnis oder in der Drogenklinik dahinvegetieren. Ihre Werke werde ich in Hochglanz-Bildbänden veröffentlichen - damit sie niemals vergessen werden."