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"Ich war nicht mehr ich selbst": Lukas hatte eine Reisedepression

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„Ich habe immer Glück gehabt und geschafft, was ich wollte“, sagt Lukas. „Außer Asien.“ 2004, nach dreizehn Jahren Schule, nach dem Zivildienst und nach einem Dreivierteljahr, in dem sich Lukas mit einem ungenügenden Abiturschnitt erfolgreich um einen Medizinstudienplatz bemüht hatte, wollte sich er sich belohnen: „Zwei Monate einfach nur Erholung und Exotik – Thailand!“ Lukas, damals 21, träumte erst von zwölf Reisemonaten, plante dann aber doch nur für acht Wochen, kehrte aber schon nach sechs Tagen zurück. Das ist nicht gerade eine lange Zeit und auch nichts, was man in den Lebenslauf schreiben würde. Lukas ging es ziemlich schlecht, er hatte das Reisen nicht vertragen. Genaugenommen litt er an einer psychotischen Dissoziation. So nennt die Psychologie den Zerfall der "persönlichkeitsformenden Bewusstseinszusammenhänge", einen Zustand, in dem man nicht einordnen kann, was man wahrnimmt und sich deshalb verloren fühlt. Kulturschock nennen das die, bei denen es gut geht; die anderen nennen es Depression.

„So etwas kann ausgelöst werden durch Stressreaktionen und körperliche Labilität, wie sie durch Orts-, Klima- und Kulturveränderungen beim Reisen zustande kommen“, sagt Professor Willi Butollo, Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität München. „Die meisten Langzeitreisenden haben solche Symptome, fühlen sich aber nicht ansatzweise bedroht.“ Lukas schon. Die Bedrohung begann während des 12-stündigen Fluges, der kein Ende zu nehmen schien. Seine schwer definierbare Angst verstärkte sich nach der Ankunft in Bangkok: Es klingt fast kafkaesk, wenn er von „unheimlichen Männern in grauen Anzügen“ spricht, die ihm am Flughafen begegneten. Er konnte sie nicht zuordnen und das machte ihm zu schaffen. Er konnte nicht sagen, ob sie zum Sicherheitspersonal gehörten oder ob sie Reisende waren. „Ich habe nichts mehr verstanden“, sagt Lukas und beschreibt eine Busfahrt: „Im Nachtbus zum Strand durfte man das Licht nicht anmachen, die Vorhänge nicht aufmachen und nicht rausschauen – warum?“ Die fremden Verhaltensweisen, die neuen Orte, alles verstörte ihn. Körperlich reagierte Lukas auf die unheimliche Fremde mit außergewöhnlich starken Schweißausbrüchen und massiven Schlafstörungen. Gleichzeitig konnte er seine Gedanken nicht festhalten. Wurde nervös. Stand ständig unter Stress. Hatte panische Angst. Er konnte kaum mit Fremden zu sprechen. Konnte auch seiner Familie telefonisch nicht verständlich machen, was in ihm vorging. „Ich war wie in Watte eingepackt. Als ob ich von der restlichen Welt durch eine Glasscheibe getrennt wäre. Wie in einen Karton verpackt“, sagt er. „Ich war nicht mehr ich selbst.“ „Wenn wir uns plötzlich nicht mehr in der gewohnten Welt befinden, bildet sich manchmal ein Selbst, das nicht mehr mit uns verbunden ist“, sagt Professor Butollo. „Häufig ist das der Grund, weshalb man wegfährt: um sich anders zu Erleben – aber selbstverständlich mit einem anderen Ziel.“ Tatsächlich wird als Grund für längere Auslandsreisen sehr oft der Wunsch nach Selbsterkenntnis angegeben. Anknüpfend an die abenteuerlichen Bildungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts nach Afrika und Lateinamerika, an die spektakulären Drop Outs der Siebziger, als Hippies in Indien politische und spirituelle Befreiung suchten, reisen heute zahllose Jugendliche um die Welt – vor den Augen Jack Kerouac und Leonardo DiCaprio ("The Beach"). Meist geht alles gut: Die Dritte Welt ist touristisch gut erschlossen und das Leben dort auch über einen längeren Zeitraum hinweg bezahlbar. Die meisten Reisenden kehren von längeren Ausflügen gestärkt zurück. Ein paar Wenige aber nicht. Die Forschung hat sich bisher nur selten mit dem Phänomen Reisedepression befasst. Erklärt werden können Fälle wie Lukas’ nur notdürftig: Wer reist, ist auf sich zurückgeworfen, so kommt früher Verdrängtes leicht hoch. „Möglicherweise war nach dem Fremden, das Lukas daheim, vor seiner Reise nicht verarbeitet hat, die Fremde Thailands ein bisschen zu viel“, sagt Willi Butollo, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Psychotherapie von Angststörungen liegt. Lukas versuchte in Thailand dem Unheimlichen durch eine Rückkehr zum Gewohnten zu entfliehen: „Ich habe viel Zeit im Internet oder am Telefon verbracht und habe nur Pizza gegessen“, sagt er. Professor Butollo hält diese Reaktion für richtig, auch wenn die Gefahr der Konditionierung bestehe: „Ein schweres, vertrautes europäisches Essen kann erden und damit die weitere Ausbildung einer dissoziativen Störung hemmen.“ Der Psychotherapeut glaubt, dass viele Reisende sich nicht klar machen, ob lange Reisen auch wirklich etwas für sie sind. „Es besteht Peer Group Pressure, ein Erwartungsdruck, dass jeder es schaffen muss, um die Welt zu reisen und Abenteuer zu bestehen“, sagt er. „Natürlich ist das nicht richtig.“ Gleichzeitig würden aber diejenigen, die depressive Symptome zeigten, nicht angemessen reagieren. Deswegen haben alle großen Entwicklungsorganisationen, die Helfer in die Dritte Welt schicken, psychologische Betreuung vor Ort und psychologische Rückholdienste eingerichtet. „Es ist nicht ganz leicht, einen Auslandsaufenthalt abzubrechen“, sagt der Psychotherapeut Willi Butollo. Lukas kehrte rechtzeitig um: Als sich sein Zustand nach Tagen nicht besserte, flog der 21-Jährige zurück nach Deutschland und begab sich, als keine Besserung eintrat, in eine dreimonatige psychologische Behandlung bei einem Therapeuten. „Ich habe viel daraus gelernt: Ich kann mich selbst besser einschätzen“, sagt er. Bis heute ist er nicht mehr alleine und für längere Zeit im Ausland gewesen. „Ich bin vorsichtiger geworden“, sagt Lukas.

Text: hannes-kerber - Foto: krokenmitte/photocase.de

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