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Herr und Dorf - Thomas Mann in Arosa Teil1: Der Journalist
Langsam trägt Ueli Haldimann sein Buch den Berg hinauf. Er geht die gezogene Hauptstraße von Arosa entlang, vom kleinen Bahnhof am Obersee, wo jede Stunde ein Zug von Chur heraufsteigt, bis zum feinen Hotel Tschuggen in Innerarosa, wo die alten Holzhäuser aussehen, als wären sie zu lange im Ofen gewesen. Das Buch in seiner Tasche, hat Haldimann selbst geschrieben. Monatelang recherchierte er dazu in Arosa, durchwühlte die Archive der Fremdenzeitung und suchte Zeitzeugen, die etwas erzählen konnten über den Ort und seine Gäste. Er hat viel gefunden, denn die Gäste waren professionelle Hinterlasser, sie hießen Christian Morgenstern, Hermann Hesse und Thomas Mann und sie sind vor siebzig oder achtzig Jahren den gleichen Weg gegangen, den Haldimann heute geht, an einem Frühlingstag 2002, mit seinem blauen Buch über Arosas Literaten. Er legt es auf die Rezeptionstische der Hotels, er bittet um Termine mit den Direktoren, die gerade die Osterskigäste begrüßen und fragt, ob sie einen paar Exemplare seiner Bücher nicht an ihre Gäste verkaufen wollten, in Kommission, eines gratis für die Hotelbücherei. Manche der Manager blättern interessiert und legen später den blauen Bücherstapel neben die Prospektständer und ihre Gäste, die heute nicht mehr fünf Wochen Urlaub in Arosa machen, sondern nur noch fünf Tage, kaufen sie und lesen wie das war: Arosa früher. Erst Sanatoriumsort für Tuberkulosekranke und dann, innerhalb weniger Jahre, Ziel für die mondäne Winterfrische. Niemand hat das vor Haldimann aufgeschrieben. Manche Hoteldirektoren aber wollen ihn nicht und nicht sein Buch. „Haben sich einfach überhaupt nicht dafür interessiert und mich fortgeschickt“, sagt Haldimann heute und hinter seiner schmucklosen Brille ist immer noch ein bisschen Enttäuschung zu sehen. Nicht viel, denn Haldimann, heute Chefredaktor des Schweizer Fernsehens ist ein trockener Mensch und politischer Journalist, der in Zürich in einem modernen Büro sitzt und abgeschirmt von einer Vorzimmerdame mit Korrespondenten in aller Welt telefoniert. Wenn die Arosaner nichts mehr von Thomas Mann wissen möchten, ist dem Jounalisten das egal, er versteht es nur nicht: Es wäre doch gerade jetzt so interessant nachzulesen, wo die ganze Welt wieder über Thomas Mann doziert, aber kaum jemand gewahr wird, dass vor allem das kleine Arosa der Schicksalsort Thomas Manns war. Wesentliche Erschütterungen ereilen sein geordnetes Lebens dort und sein lebenslängliches Exil beginnt sogar in dem von ihm geschätzten Waldhotel, auf einer Anhöhe über Arosa.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
1933 verbringt er hier den Winterurlaub und eröffnet am 15. März ein neues Tagebuch, weil er die alten Hefte in der Münchner Wohnung am Herzogpark gelassen hat. Täglich spaziert der Großschriftsteller vom Waldhotel rüber nach Maran und überdenkt die unruhigen Diskussionen und Warnungen, die ihn in diesen Wochen umfangen. Seine erwachsenen Kinder Erika und Klaus interpretieren die überschlagenden Vorgänge in Nazideutschland richtig und warnen ihren Vater vor einer Rückkehr an die Isar. Thomas Mann schweigt und spaziert. Den sanften Höhenweg entlang, an den mächtigen Tannen vorbei, die heute wie damals das Denken so würdig einrahmen - eine Skipiste, wie sie heute vom Weisshorn herab den Weg kreuzt, riss den Nobelpreisträger noch nicht aus der Ruhe. Thomas Mann tut sich schwer mit dem Gedanken, vorerst nicht zurückzukehren. Er, der so angewiesen ist auf feste Strukturen bekommt angesichts eines Vagabundenlebens Angst. Nachmittags tauscht er sich im Café Old India mit Frau Katja darüber aus, die während seiner Spaziergänge auf einem der sanften Hügel rund um Maran vorsichtige Skischwünge macht. Im Old India, wo Thomas Mann sich bei Weltschmerz auch mal Wermut bestellt, war es so voll, dass auch der Nobelpreisträger keinen Tisch am Fenster bekam, was er bedauernd notiert. Wenige Tagebuchblätter später, folgt die bittere Einsicht, dass es eine Rückkehr ins sichere München nicht mehr gibt, weil es 1933 das sichere München nicht mehr gibt. MAX SCHARNIGG