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Herberge, nachts, irgendwo in Mexiko: Frida Kahlo spült, Kakerlaken trippeln
Dass hier manches anders ist, merkt der Übernachtungsgast, als ihn mitten in der Nacht ein klirrendes Geräusch weckt. Er schreckt hoch. Ein Einbrecher, ein bewaffneter Überfall oder die grimmige Dame von 204, deren Unzufriedenheit mit dem Komfort sie nicht ruhen lässt? Alles scheint möglich in Mexico City, dem Moloch mit über 20 Millionen Einwohnern. Es ist aber nur die Fensterscheibe, die einem vorbeifahrenden Lastwagen nicht standgehalten hat und nun zersplittert im Zimmer liegt. Der Rest der Nacht ist nun der Jagd nach Mücken gewidmet, die sich wie hungrige Vampire durch diesen unerwarteten Zugang zum Paradies stürzen. Das Paradies ist der menschliche Körper. Und hört man nicht leise die Kakerlaken trippeln? Bahnt sich nachts die Wildnis ihren Weg zurück in den urbanen Dschungel?
Menschen gibt es in Mexico City mehr als genug; in der Jugendherberge, dem YWCA in der Calle Humboldt im Centro Historico, jedoch nicht. Im Foyer liegt in einer Vitrine Klopapier und eine alte Apfeltorte bereit. Der Mann an der Rezeption will gern helfen, kann das Spanisch von Ausländern jedoch nicht verstehen. Hinter dem Gitter im ersten Stock, das die menschliche Wildnis draußen auf der Straße halten soll, befindet sich der Männertrakt. Ein dezentes Schild weist darauf hin, dass die Damen kein gesteigertes Interesse daran haben, den männlichen Gästen in Unterhose auf dem Flur zu begegnen. Es gibt sowieso nur einen Gast. Der ist sorgfältig gekleidet und sitzt den ganzen Tag im Fernsehraum, um sich Futurama und andere Zeichentrickserien anzusehen. Im zweiten Stock wohnen vier Frauen. Das YWCA ist groß, dunkel und sehr leer. Hier kann der geneigte Gast seiner Melancholie nachgehen, wenn nachts der Regen gegen die Fenster prasselt. Beim Einschlafen hört der Reisende den Puls der Stadt, den Verkehrslärm, und sieht den im Smog gelb und blau blinkenden Lichtern zu, die sich bis an jeden Horizont erstrecken. Mexico City ist laut, stinkt und schläft wirklich niemals. New York dagegen ist eine verdöste Tante, die sich gern zum Nachmittagsnickerchen hinlegt. Außer dem YWCA, dessen Pendant für Männer YMCA einst aus christlicher Nächstenliebe gegründet wurde und das durch die Village People zum Symbol einer Nächstenliebe ganz anderer Art wurde, gibt es in der Calle Humboldt noch anderes: eine halbfertig gebaute Tiefgarage ohne Wände, die nachts wie ein verwundetes Urzeittier über der Straße hängt. Es gibt Straßenstände, an denen Tortillas und Hardcore-Pornos angeboten werden und einen Parkplatzwächter, der neben einem kleinen Marienschrein sitzt und den Donauwalzer auflegt, immer wenn es regnet. Mexico City hat manchmal viel Ähnlichkeit mit Wien. Die Nacht beginnt hier Punkt halb acht, der Nähe zum Äquator wegen. Dann soll der brave Tourist seine Herberge nicht mehr verlassen, dann drohen draußen Mord, Gewalt und Totschlag – kurz: der Dschungel. Ganz so schlimm ist es nicht; Lonely Planet und Co müssen sich jedoch absichern gegen etwaige Klagen Geschädigter, die nicht auf alle Gefahren hingewiesen wurden. Also verbringt man die Abende in einer Feldbett-Schrank-Stuhl-Kombination und bekämpft die Klaustrophobie, während draußen die unendliche Weite ist. Daheim ist weit weg, also wird der Laptop zum letzten Anker mit dem Heimathafen. Der einsame Reisende wiegt sich mit den "Drei Fragezeichen" in den Schlaf, um das Trippeln der Kakerlaken nicht hören zu müssen. Es trippelt nichts, nur die Klospülung nebenan rauscht unablässig. Es scheint, die missmutige Dame von nebenan hat die Tortillas nicht vertragen. Vielleicht hat sie aber auch diese Nacht ihren Roman vollendet, und ist darüber so verzweifelt, dass sie ihn nun im Klo hinunterspült. Seite für Seite. Mexico City ist voller Geschichten, und sie sind immer ein bisschen größer als die Realität. So wie diese Stadt.
Um elf Uhr nachts wird der Gast hungrig, jedoch erscheint es ohne Gefahr für Leib und Leben nicht geboten, sich etwas bei Burger King um die Ecke zu holen. In Mexico City gibt es sehr viele Filialen dieser amerikanischen Kette, und abgesehen davon, dass Ketchup dort Cats Up heißt, ist es wie überall auf der Welt. Eigentlich tröstlich, denkt sich der Reisende und: Katzen hoch! Er geht auf den Balkon rauchen und achtet darauf, dass keine Mücke den umgekehrten Weg nimmt. Noch ahnt er nichts von dem späteren Unglück. Er fragt sich jedoch, wieso den Mücken der Smog nichts ausmacht und ob diese vielleicht die letzte überlebende Spezies auf diesem Planeten sein werden, wenn der Mensch sich selbst vergiftet hat. Die Asche verglimmt im Regen, der Mensch ist überall, bis zu den Hügeln in der Ferne, die dieser Stadt ihre natürliche Begrenzung geben, so maßlos sie auch erscheint.
Die Nachbarin von 204 zieht den Vorhang vor ihr Fenster und durch diese wütende Bewegung meint man zu erkennen, dass sie sehr unzufrieden ist mit sich und ihrem Leben. Der Reisende hat sie nie zu Gesicht bekommen. Vielleicht ist auch alles ganz anders, und er hat heute bloß zu viele Stunden in der Schlange vor dem Nationalpalast der Schönen Künste gestanden. Und so phantasiert er nun, dass im Nachbarzimmer eine Frida Kahlo der Jetztzeit wohne.
Dann geht der Reisende ins Bett, er zieht die schmuddelige Decke über den Kopf. Nachts wird ihn das Geräusch der zersplitternden Fensterscheibe erschrecken und als er dann am nächsten Morgen aufwacht, ist die Stadt schon wieder da. Sie war nie weg. Das ist ein beruhigendes Gefühl, aber auch ein äußerst melancholisches.
Text: verena-krebs - Fotos: privat