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Große Freiheit Deutschland: Wie chinesische Studenten Deutsch lernen, um in Europa zu studieren
Die Sprachschule Lao Wa liegt in einem Pekinger Außenbezirk, Haus 50 in Tian Tong Xi Yuan. Im fünften Stock wird für Deutschland gelernt. Als hellbrauner Klotz ragt das Haus in den Himmel, die Klimaanlagen pappen wie Kletten an der Außenfassade. Tian Tong Xi Yuan besteht hauptsächlich aus Wohnblöcken wie diesen, billig und schnell aus dem Boden gestampft. In Seitenstraßen finden sich Restaurants, Friseure und Massagesalons. Die blinkenden Schriftzeichen, die belebten Straßen am Abend täuschen aber nicht über eines hinweg: Wer hier wohnt, lebt nicht schlecht, sitzt aber auch erst mal fest.
Das Viertel Tian Tong Xi Yuan Bild: florian-kaindl Xiao Yong, 22, hat seine Hoffnung an die Sprachschule geknüpft. Er hat in Anhui Tourismus studiert und arbeitet hart für sein Ziel, nach Deutschland zu gehen. Er kämpft tapfer mit Worten wie „Tourismuspsychologie“ und „Experiment“, baut Sätze zusammen wie: „Reisebüro muss Plan Probleme bestimmt.“ In einer Woche wird mittels einer Prüfung von der Akademischen Prüfstelle (APS) der Deutschen Botschaft in Peking entschieden, ob sein Deutsch gut genug ist, um ihm die Zulassung für ein Studium in Deutschland zu geben. „Ich bin nervös“, sagt Xiao Yong und lacht, den Spiralblock mit seinen Notizen vor sich. Xiao Yong ist klein, er lacht oft und heftig, und schüttelt seinen drahtigen Körper dabei; doch wenn er Deutsch spricht, ist das Lachen auch als Entschuldigung zu verstehen. Für seine Nervosität, zitternde Finger und die Schweißperlen auf seiner Stirn. Xiao Yong ist nicht der Einzige, dem es so geht. Er wohnt mit elf Studenten in einer Wohngemeinschaft in Haus 50 zusammen; insgesamt wird die Sprachschule, zu der noch ein weiteres Appartement gehört, von 62 Studenten aus ganz China besucht. Sie alle müssen, wollen sie in Deutschland studieren, die Prüfung bestehen. Darin werden sie auf allgemeines Verständnis, auf Ausdrucks- und Argumentationsweise geprüft. Die Wohnsituation ist neu für Xiao Yong. „In China“, sagt er, „wohnt man normalerweise bis zur Hochzeit zuhause.“ Er hat eine Freundin, ans Heiraten aber denkt er noch nicht. Im Gegenteil: In Deutschland, flüstert Xiao Yong hinter vorgehaltener Hand, möchte er sich eine neue Freundin suchen. Er lächelt verlegen. Eigentlich hat er für solche Gedanken überhaupt keine Zeit. Die Prüfung rückt näher, zwei Tage bleiben ihm noch, und dafür hat Xiao Yong sich sogar göttlichen Beistand gesucht. Er war im Tempel, und hat auf Knien zu Buddha gebetet, dass er die Prüfung besteht. „80 Prozent des Bestehens hängen vom Fleiß ab, 20 Prozent vom Glauben“, erklärt er. Nach dem kurzen spirituellen Ausflug ist nun wieder handwerklicher Fleiß angesagt. Xiao Yong sitzt an seinem Schreibtisch in einer winzigen Ecke des Raumes der Wohngemeinschaft und sagt sich seine Notizen laut vor: „Reiseplanung umfasst viele Faktoren. Erstens...“ Der Rest geht in einem Geräuschpegel unter, der sich unweit von ihm, am großen Tisch, aus klingelnden Handys, lautstark geführten Gesprächen und dem Ballersound von mehreren Computerspielen ergibt. Verschobene Maßstäbe Es ist nie ruhig im fünften Stock von Haus 50, doch Xiao Yong stört das nicht. Der Besuch im Tempel ist die einzige Auszeit, die er sich gönnt. Der Rest ist immer ein Gemeinschaftserlebnis: Mal finden sich fünf Studenten sitzend, stehend und hockend vor einem Laptop zusammen, um sich einen Film anzusehen. Mal gehen sie essen, mal bleiben sie zuhause und kochen. Manchmal feiern sie auch: Einmal schmeißt Wang Yfan eine Party, sie ist 22 geworden. Alle WG-Mitglieder, darunter Xiao Yong, sitzen versammelt am Tisch. Es gibt Kuchen und Cola, und es wird Flaschendrehen gespielt. Als zwei Studenten sich küssen, das heißt: als die Lippen des Jungen für den Bruchteil einer Sekunde die Wange des Mädchens berühren, bricht ein Geschrei los, das man in Deutschland von ekstatischen Teenagern beim Anblick von Tokio Hotel kennt. Die Maßstäbe, so scheint es, sind hier ein wenig verschoben. Gut möglich, dass sie in Deutschland dem westlichen Niveau angepasst werden: In der Sprachschule kursiert die Geschichte einer Studentin, die für drei Monate Au Pair in Bremen war. Sie ging als Mädchen, heißt es, und kam total verändert zurück; sie hat mit ihrem Freund Schluss gemacht und ist fest entschlossen, sich von der in China dominierenden Machokultur nichts mehr sagen zu lassen. Unabhängigkeit, Gesellschaftskritik- in solchen Dimensionen denkt Xiao Yong noch nicht. „Ich will nach Deutschland“, sagt er, „solange ich jung bin, muss ich das tun.“ Er macht eine Pause. Das Thema Selbstverwirklichung liegt in der Luft, doch er spricht es nicht an. Es schickt sich nicht, egoistisch zu sein. Xiao Yong hat früh das Bewusstsein entwickelt, dass er eigene Wünsche hinter das Gemeinwohl zurückstellen muss. Persönliche Gründe für seinen Schritt ins Ausland anzugeben, fällt ihm nicht leicht. „Deutschland ist schon entwickelt, China noch nicht“, sagt er schließlich. „Wenn ich einige Jahre in Deutschland verbringe, kann ich Erfahrungen machen, die mir später sehr nützlich sein werden.“
Xiao Yong (rechts) mit Freunden bei einem der seltenen Ausgeh-Abende Bild: florian-kaindl Sieben Jahre will Xiao Yong in Deutschland, wahrscheinlich Leipzig, studieren: BWL. Er ist diesem Ziel wieder ein Stück näher gekommen. Er hat die Prüfung bestanden. Xiao Yong steht im dritten Stock des Landmark Towers in Peking, in dem sich die Akademische Prüfstelle der Deutschen Botschaft befindet. Das Zertifikat besitzt er in zehnfacher Ausfertigung: „Verständigung war eingeschränkt möglich. Note 2,8“. Der Druck fällt von ihm ab. Er ist aufgekratzt, ballt die Faust; er möchte von jetzt an „Alex“ genannt werden. Schon im Oktober könnte es losgehen. Xiao Yong lacht. Das muss er seinem Vater erzählen. Nach ein paar Minuten kommt er vom Telefonieren zurück. Was sein Vater gesagt hat? „Dass ich schnell nach Hause kommen soll“, sagt er, und lacht wieder, doch die Freude ist verhaltener als zuvor. Xiao Yong ist Deutschland ein Stück näher gekommen. Doch bis er wirklich da ist, wird es noch dauern.