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Fernweh ist eine Illusion
Seitdem ich denken kann, will ich weg. In die Wüste, die Berge, ans Meer, vor allem aber in eine größere Stadt, weg aus der Provinz. Das Gefühl, das sich einstellte, wenn ich dann wirklich verreiste, war überwältigend. Das Wegsein war stets auf eine unvergleichliche Art grandios und aufregend und brachte zugleich ein Gefühl der Ruhe mit sich. So als ob man endlich am richtigen Ort sei.
Fernweh zu haben ist modern. Wir versuchen, möglichst viel Auslandserfahrung in unsere Lebensläufe zu stopfen. Es ist Teil jenes Leistungsdenken, das uns glauben lässt, dass wir alles erreichen können, wenn wir nur hart genug dafür arbeiten. Und alles zu erreichen heißt auch, überall leben zu können, es überall aushalten zu müssen. Wir wollen weiter kommen und dafür reicht es nun einmal nicht, sich immer nur am selben Ort aufzuhalten. Wer sich heute in die Ferne sehnt, sehnt sich so oft auch nach Erfolg, Glanz und Ausnahmezustand.
Darum fühlte auch ich mich lange so, als hätte ich versagt, weil ich die vergangenen Jahre in nur einer Stadt verbracht hatte. Es fühlte sich so an, als wäre ich steckengeblieben und als würde mir etwas Wichtiges entgehen. In meiner Pubertät wollte ich weg aus dem kleinen, spießigen Land, dem ich mich nie zugehörig fühlen wollte. Weg von den Kleingeistern mit hirnrissigen Konventionen und beschränktem Horizont. In meinen Augen war ich immer ein bisschen Kanye und der Rest die doofen Douchebags. Später waren es dann die Familie, die mir zu sehr als Last erschien, die Freunde, die mir plötzlich fremd waren, die Beziehung, die mir wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit vorkam und nicht mehr zu meinem neuesten Ich-Entwurf passte. Die Sehnsucht in die Ferne basierte immer schon auf einem tiefen Veränderungsdrang und auf Unzufriedenheit, auf dem Traum des ultimativen Neubeginns. Weg, weil man Belastendes hinter sich lassen will. Weg, weil es nur besser, schöner sein kann als dort, wo man gerade ist.
Die Ferne lockt - aber finden wir dort wirklich, was wir suchen?
Das vergangene Jahr habe ich zum Großteil in fremder Umgebung verbracht. Und auf einmal beschleicht mich der Gedanke, dass es sich bei meinem Fernweh eigentlich um eine Illusion handelt. Nicht, dass das Wegsein mich nicht verändert hätte und gut gewesen wäre – es war super und eine wichtige Erfahrung. Aber ist meine Auswandererexistenz wirklich so anders als die, die ich zu Hause liegen ließ?
Der Zweifel kam, als eine Schulfreundin mich hier in München besuchte. „Komm doch ins Café Nils, das ist nett, ist so wie das Café Stern, sagte ich ihr am Telefon. Das „Café Stern“ war ein Kaffeehaus in der Kleinstadt, in der ich acht Jahre lang zur Schule gegangen war, die ich nicht ausstehen konnte und der ich nach dem Abi kompromisslos den Rücken kehrte. Nach der Schulzeit habe ich die Stadt jahrelang gemieden. Noch heute überfällt mich, wenn ich dort bin, das beklemmende Gefühl, dass die Zeit still steht. Die Stadt riecht nach trister Langeweile und Einheitsbrei. Beides Dinge, die ich nicht leiden kann. Und plötzlich ertappe ich mich dabei, wie ich in einem ganz ähnlichen Café sitze und es super finde. Aber es bleibt nicht nur bei dieser Beobachtung. Da fällt mir auf einmal Pete ein, den ich in Dänemark kennen gelernt habe und mit dem ich im vergangenen Jahr viel Zeit verbracht habe: Er erinnerte mich immer an meinen alten Mitbewohner. Und meine Lieblings-Kommilitonin Lena, die doch eigentlich genau wie meine Freundin Anna ist. Auf einmal merke ich: In meinem vermeintlich „neuen“ Leben wimmelt es nur so von Doubles. Zu verblüffend vielen Personen und Orten lässt sich Zuhause ein Äquivalent finden. Kann es sein, dass ich ständig denke etwas Neues zu erleben und mich in Wirklichkeit stets in Parallelwelten aufhalte?
Mit neuen Städten ist es ein bisschen wie mit dem Verliebtsein. Man hetzt von einem Stadtviertel ins nächste, man will der Stadt näher kommen, ja nichts verpassen und ihren Rhythmus kennenlernen. Sie steht für etwas Neues und Unbekanntes. Man erhofft sich dadurch, selbst erneuert und generalsaniert zu werden. Es ist diese berauschende Überforderung, die reizvoll ist. Und die kleinen Momente des Verlorengehens, die sich aufregend anfühlen. Vor einem liegt der Asphalt, der erobert werden will. Eine neue Haut, in die man hineinkriechen kann. Die Stadt ist der Partner, mit dem man diesmal alles richtig machen will. Man will die richtigen Menschen treffen und die richtigen Orte besuchen.
So wie man aber auch in einer Beziehung von der ersten Verliebtheit in die Routine rutscht, passiert das auch mit der neuen Stadt. Ich ertappe mich jedes Wochenende am gleichen Platz am Wasser, mit der selben Limo in der Hand oder wie ich nach einem Thai-Lokal Ausschau halte, wo es dieselbe Suppe wie in der Heimatstadt gibt. Aber ist das Heimweh? Als ich in Dänemark auf der Uni zufällig jemanden traf, der aus dem selben 500-Einwohner-Kaff stammte wie ich, ergriff ich schnell die Flucht und ging ihm das restliche Semester aus dem Weg. Wie ein ungebetener Gast kam er mir vor, in meinem neuen Leben. Wieso suche ich also jetzt plötzlich heimlich nach Vertrautheit? Sie war es doch, der ich entkommen wollte.
Eine naheliegende und banale Antwort ist der Wiederholungszwang - nicht nur die Dinge zu suchen, die man mag, sondern auch die, die einen nerven. Oder das alles bedeutet einfach, dass es zu Hause eigentlich auch ganz okay ist. Oder, dass es überall irgendwie gleich ist. Ein neuer Ort soll die Veränderung bringen, die es für das neue Ich braucht. Vielleicht ist „das andere“ aber gar nicht so anders wie wir immer glauben und überall fällt dasselbe Licht auf einen und überall wirft man dieselben Schatten.
Wenn das so ist, dann ist Fernweh ein Stück Heimweh. Die Sehnsucht nach der Ferne eigentlich ein Ankommenwollen, an einem Platz, an den man gehört und an dem man sich wohlfühlt. Und dieses Zuhause ist vielleicht mehr als nur ein Ort und etwas zu dem auch Menschen, Gefühle, Stimmungen und Erinnerungen gehören. Eine Mischung aus Neuem und Altem, Positivem und Negativem. Das bedeutet dann womöglich, dass Zuhause in einem selbst schlummert, wandelbar und beständig zugleich. Etwas, das man wie ein Schneckenhaus immer mit sich herumträgt und nicht so leicht abwerfen kann. Auch wenn man es manchmal wirklich gern loswäre.
Text: simone-groessing - Foto: d+d / photocase.com